Kommunale Selbstverteidigung - Formen des bewaffneten Widerstandes gegen Mafia und Staat in Mexiko
Seidlvilla, Nikolaiplatz 1B, München
Es ist ein scheinbarer Widerspruch: Mexiko hat sich in den letzten Jahren immer stärker in die Weltwirtschaft integriert. Auf internationalem Parkett tritt die Regierung für die Einhaltung der Menschenrechte ein. Sie hat praktisch alle wichtigen internationalen Menschenrechtspakte unterschrieben.. Doch in seinem Innern bietet Mexiko ein völlig anderes Bild: Ein Staat, der der Mehrheit seiner Bürger_innen weder ökonomische noch soziale geschweige denn physische Sicherheit bieten kann oder will. Mit schwerwiegenden Folgen.
In Mexiko konzentrierten vier mexikanische Milliardäre 2002 ein Vermögen, das damals 2 Prozent des mexikanischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) ausmachte. 2014 besaßen sie bereits 9 Prozent des BIP. Dagegen leben mehr als 50 Millionen Einwohner_innen, etwa die Hälfte der Bevölkerung, in Armut.
Auch was die physische Sicherheit der Mexikaner_innen angeht, sprechen die Zahlen Bände: Eine über die Jahre so gut wie nicht veränderte Straffreiheit bei 98 Prozent aller Delikte. Mehr als 26.000 gewaltsam Verschwundene - davon etwa die Hälfte allein in der Amtszeit des seit Ende 2012 regierenden Präsidenten Enrique Peña Nieto. Laut jüngsten Angaben des landesweiten mexikanischen Menschenrechtsnetzwerkes Alle Rechte für Alle sind Funktionsträger_innen des mexikanischen Staates für fast 60 Prozent der Attacken auf Aktivist_innen verantwortlich.Der Staat ist nur selektiv gewillt, sein angestrebtes Gewaltmonopol einzusetzen.
Luis Hernández Navarro geht im seinen Buch noch einen Schritt weiter: »Verbrechen, Politik und Unternehmerwelt haben sich auf spektakuläre Weise vermischt.« An anderer Stelle führte er aus: »Wir erleben ganz eindeutig in vielen Regionen des Landes einen Narco-Staat. Die kriminelle Ökonomie Mexikos macht heute zehn Prozent des Bruttoinlandsproduktes aus. Das ist aus wirtschaftlicher Sicht sehr wichtig. Und es handelt sich um eine Aktivität, die Geldwäsche in bedeutenden Industrien impliziert: Finanzsektor, Immobilien- und Tourismusbranche, Schutz durch Polizei, Militär und lokale Politiker_innen. Das hat eine bestimmt Art von Gewalt geschaffen. Diese Gewalt impliziert zwangsweise Enteignungen und Vertreibungen.«
Hernández Navarro zeichnet die Entstehung und Entwicklung zivilgesellschaftlicher Selbstverteidigung in Mexiko nach. Er analysiert diese Prozesse vor dem Hintergrund staatlicher Repression gegenüber sozialen und indigenen Bewegungen, einer Militarisierung der Politik und dem Einfluss von Gruppen der organisierten Kriminalität. Besondere Berücksichtigung finden die widersprüchlichen Erfahrungen zivilgesellschaftlicher Selbstverteidigung in den Bundesstaaten Guerrero und Michoacán. In einzelnen Regionen erfüllen die Selbstverteidigungsgruppen nicht nur Funktionen der öffentlichen Sicherheit, sondern übernehmen auch Aufgaben der Schadensregulierung und Wiedereingliederung von Tätern und Täterinnen in das gesellschaftliche Leben. Andere Selbstverteidigungsgruppen dagegen haben weder ein breites gesellschaftspolitisches Mandat noch legen sie einer Institution oder Gruppe gegenüber Rechenschaft ab. Abschließend werden die unterschiedlichen Erfahrungen kommunaler, bäuerlicher und indigener Selbstverteidigung in den aktuellen nationalen Kontext eingeordnet.
Zum Autor
Luis Hernández Navarro ist Journalist und Leitartikler der renommierten mexikanischen Tageszeitung >La Jornada<. In den 1970er Jahren war er Mitbegründer unabhängiger Gewerkschaften, später Berater unabhängiger Bauernorganisationen. Im Jahr 1995 nahm er in Chiapas als Berater für die Zapatist_innen an den Dialogrunden von San Andrés teil. Hat zahlreiche Bücher zu sozialen Bewegungen veröffentlicht. Auf Deutsch erschien 2013 im UNRAST Verlag sein Buch >Wer Beton sät, wird Zorn ernten<.
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Donnerstag, 12.5.2016, 19 Uhr