26. Mai: Onlineveranstaltung: CORONA-Pandemie in Nicaragua und die Bedeutung präventiver Gesundheit
Das Movimiento Comunal Nicaragüense leistet seinen kleinen Beitrag zur Bekämpfung der Pandemie Covid 19 in Nicaragua
Interview mit Enrique Picado, Mai 2020
Enrique Picado ist Gründungsmitglied der Nicaraguanischen Kommunalbewegung (MCN), verantwortlich für das kommunale Gesundheitsprogramm, Mitglied des landesweiten Direktoriums sowie des landesweiten Rates, als Hauptinstanzen der Leitung des MCN.Er studierte Sozialwissenschaften und spezialisierte sich im Bereich kommunitärer Gesundheit, angelehnt an die globale Strategie der gesundheitlichen Grundversorgung, Primary Health Care (PHC).Zwischen 1992 und 1998 war er zwei aufeinanderfolgende Zeiträume lang Koordinator des MCN und wurde im Jahr 1998 zum ordentlichen Mitglied des landesweiten Direktoriums gewählt. Seitdem ist er der Leiter des Bereichs kommunitärer Gesundheit. Am 1. Juni 2009 hatte er die Ehre, vom Generalsekretär der Vereinten Nationen, Ban Ki-moon, den Bevölkerungspreis der Vereinten Nationen zu erhalten, eine Auszeichnung, die dem MCN für dessen Beiträge zu Gesundheit und umfassender Entwicklung der nicaraguanischen Bevölkerung übergeben wurde.
Was ist die Grundlage des Gesundheitssystems in Nicaragua?
Die Grundlage des Gesundheitssystems in Nicaragua ist unter anderem die außergewöhnliche Erfahrung in der Gesundheitsförderung und Prävention, die seit mehr als 40 Jahren, seit den 80er Jahren, unter Beteiligung des Red Comunitaria (Gemeinde Netzwerk) entwickelt wurde; und ein Gesundheitsmodell, das auf der Gemeinschaft basiert, in der die Gesundheitsarbeiter ein grundlegendes Glied sind. Die kostenlose Gesundheitsversorgung ist ein wichtiger Fortschritt, ein Schlüsselelement des Gesundheitssystems in Nicaragua.
Wie ist die aktuelle Situation der Covid19-Pandemie in Nicaragua?
Die Panamerikanische Gesundheitsorganisation und die WHO haben erklärt, dass sich Nicaragua jetzt in der internen Übertragungsphase der Pandemie befindet, sie nennen es Community Transmission. In Nicaragua sind die Ursachen nicht sicher bekannt, die Pandemie entwickelte sich später als im übrigen Mittelamerika. Im Moment herrscht noch Unsicherheit über die tatsächlichen Zahlen. Die Zahlen der Regierung sind zum Teil ungenau. Das Observatorio Ciudadano COVID-19 (Bürgerbeobachtungsstelle COVID-19) verfügt über eine eigene Statistik. Die „voz populi" hat jedoch ihre eigene Wahrnehmung und Kriterien über die Pandemie. Was die Leute wahrnehmen, sind Menschen, die in ihrer Nachbarschaft gestorben sind, kranke Verwandte und gestresste Menschen.
Die Menschen haben ihre eigene Einschätzung der Realität. Die Regierung, bereitet die Bedingungen für die Pflege in den Krankenhäusern vor. Es wäre wichtig, dass die Regierung offener über die Situation der Pandemie spricht, denn sie ist die führende Instanz der öffentlichen Politik und daher verlangen die Menschen, wie mir scheint, nach mehr zutreffenden und sachdienliche Informationen. Eine Sensibilisierungs- und Orientierungskampagne für die Bevölkerung wäre hervorragend; wie dies in anderen Situationen ja realisiert wurde.
Wie haben sich staatliche Institutionen auf die Pandemie vorbereitet, welche Rolle spielt die Arbeit des MCN?
Der Staat hat sich in aller Stille vorbereitet und die Institutionen haben sich gemäß den Realitäten des Landes eingestellt. In erster Linie hat sich der Staat darauf vorbereitet, auf Krankheitsfälle reagieren zu können. Als MCN haben wir ab dem 14. März offiziell vereinbart, Hand in Hand mit staatlichen Institutionen für die Verbreitung von Informationen durch Aufklärung, Informationsbroschüren, oder Radioprogrammen zu arbeiten.
Die Pandemie hat uns alle sozusagen mit „erhobenen Händen" getroffen, weil es auf der Welt noch keine Medizin und keinen Impfstoff gibt. Global gesehen ist es bisher eine eher unbekannte Situation. Wir für unseren Teil erreichen die Gemeinden mit unseren Informationen so gut wir können, aber wir haben nicht genug Ressourcen, um wirklich alle zu erreichen. Zu den Empfehlungen, die wir geben, gehören Händewaschen, Abstand halten, Niesen mit angewinkeltem Arm und das Tragen einer Maske.
Wie reagiert die Bevölkerung auf diese Empfehlungen, werden sie befolgt oder was sind die Gründe, wenn sie nicht umgesetzt werden?
Generell gibt es in Nicaragua und in der Bevölkerung seit mehr als vier Jahrzehnten eine Kultur der Prävention. Zwei Momente sollten hier erwähnt werden. Bis Ostern wurden die Empfehlungen diszipliniert hingenommen, die Menschen blieben so gut es ging zu Hause und es wurden praktische Maßnahmen durchgeführt. Danach hat sich diese Disziplin etwas gelockert. Das liegt vor allem daran, dass 70 % der Bevölkerung im informellen Sektor arbeiten. Es ist eine Ökonomie der Straße, der Plätze oder Märkte, sowie der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Die Menschen haben den Druck, wirtschaftlich zu überleben. Es ist eine Art Widerspruch sich selbst zu schützen oder essen zu können. Ich denke, beides Zusammen könnte möglich sein,
Das Problem ist jedoch, dass die Situation der Pandemie eine andere ist als die von vor drei Wochen. Fälle von „atypischer" Lungenentzündung sind auf dem Vormarsch. Es gibt viele Beerdigungen von Menschen, selbst in der Nacht. Man sieht immer mehr Menschen, die Masken tragen, aber die Leute müssen auch arbeiten. Andere schützen sich und bleiben zu Hause.
Wichtig wäre ein Ansatz, der sich einerseits an den Maßnahmen orientiert, wie sie in vielen anderen Ländern umgesetzt werden, die aber an die (wirtschaftliche) Realität des Landes angepasst werden müssen.
Können Sie die Präventionsarbeit des MCN näher erläutern?
Zunächst einmal muss gesagt werden, dass wir derzeit keine Treffen oder größere Veranstaltungen durchführen. Wir nutzen Hausbesuche, Radios etc., um die Menschen über die wichtigsten Hygienemaßnahmen, wie das Vermeiden größerer Menschenansammlungen oder den richtigen Umgang mit Wasser zu informieren. Wir befähigen Menschen, die Ressourcen ihrer eigenen Gemeinschaft zu nutzen. Wir erstellen auch einen Plan, gemeinsam mit den Haushalten, für den Fall, dass eine Person mit CORONA infiziert wird.
Wir sprechen darüber, wie man diese Person unterstützen kann, wie man sie isoliert oder behandelt, oder wir sprechen darüber, was die Familie tun sollte, wenn ein Verdacht auf Ansteckung besteht. Manchmal nehmen wir auch Kontakt mit dem lokalen Gesundheitsposten auf. Wir sprechen nicht nur über gesunde Ernährung, sondern in der Regel auch über Hygiene in den Gemeinden selbst oder thematisieren häusliche Gewalt, die häufiger vorkommt, wenn Menschen in ihren Häusern isoliert sind.
Und was hat die Regierung getan?
Seit Januar hat die Regierung „interne" Maßnahmen ergriffen. Dazu gehört die Vorbereitung der Krankenhäuser, die Festlegung von Verantwortlichkeiten und Aufgaben für jeden Bereich. Angesichts dieser Situation gibt es ein staatliches Protokoll des Gesundheitsministeriums.
Darüber hinaus wurden von der Regierung etwa 4 Millionen Hausbesuche durchgeführt. Das ist eine gute Sache, aber es besteht immer noch eine Ansteckungsgefahr, da sich viele Menschen nicht schützen. Die Bevölkerung ergreift eigene Maßnahmen, um sich zu schützen; es gibt Aufrufe von verschiedenen Organisationen, den Kirchen sowie auch von Nichtregierungsorganisationen.
Was unserer Meinung nach jedoch fehlt, ist die Alarmierung der Bevölkerung. Es gibt keine Strategie der sozialen Distanzierung aus Sicht der Regierung. Sicher, die Leute müssen zur Arbeit gehen können, aber alles, was zu Menschenmassen führt und nicht notwendig ist, sollte abgesagt werden, wie Volksfeste oder Sportveranstaltungen. Unserer Meinung nach sind sie sichere Quellen der Ansteckung.
Heute kennt fast jeder Mensch in Nicaragua jemanden, der gestorben ist. Das gibt eine Menge Raum für Gerüchte und Spekulationen. Im Interesse aller sollte die Regierung ihre Informationspolitik verbessern. Wegen des mangelnden Vertrauens haben manche Menschen Angst, die Gesundheitsposten aufzusuchen. Es besteht auch die Gefahr der Vergiftung durch Selbstmedikation. Gut, dieses Problem der Selbstmedikation hat schon vorher bestanden und ist schon fast ein Teil unserer Kultur geworden, hat aber jetzt noch zugenommen. Der Markt für Medikamente und Apotheken ist in Bewegung und bereichert sich an der Pandemie und der Unwissenheit.
Das Gesundheitsministerium müsste entschlossener und überzeugender sein, damit die Menschen keine Angst haben, in die Gesundheitszentren zu gehen. Sie muss den Kampf gegen die Unsicherheit gewinnen. Das hat sie immer getan und wir glauben, sie kann und müsste es auch in dieser Situation schaffen.
Es gibt Berichte, dass in vielen Schulen die Verwendung von Mund-/Nasenschutz oder der Einsatz von Desinfektionsmitteln mit der Begründung verboten wäre, dass das Virus in Nicaragua nicht existiert. Was wissen Sie darüber?
Zunächst wurde der Nasen-/Mundschutz nicht empfohlen, aber auch nicht verboten. Aber solche Situationen entstanden zu Beginn der Pandemie, die dann schnell zu einem politischen Problem wurde, denn die gesellschaftspolitische Situation, in der sich das Land befindet, entzieht sich unserer Meinung nach nicht dieser Realität. Heute jedoch können wir vom MCN bezeugen, dass die Schulkinder über Hygienemaßnahmen, die Verwendung von Masken und die Anwendung von Desinfektionsmitteln aufgeklärt werden. Sie werden auch spielerisch unterrichtet und es ist eine Freude zu sehen, mit welcher Motivation die Kleinen das umsetzen. Die Verwendung von Mund- und Nasenschutz ist mittlerweile üblich, zumindest in den Städten. Aber es ist wahr, dass in der ersten Phase diese Situation anders war. In diesem Zusammenhang kann es auch sein, dass es auf der Straße Einschüchterungsversuche gegen Maskenträger gab, das ist teilweise passiert.
Es gibt Leute, die behaupten, dass es dem Gesundheitspersonal verboten wäre, sich zu schützen, um keine Panik zu verbreiten, und dass diejenigen, die sich zu schützen versuchten, bestraft wurden?
In der ersten Phase haben die Mitarbeiter des Gesundheitssystems die besonderen Schutzmaßnahmen nicht ergriffen. Dies hat sich jedoch geändert, ebenso wie sich das Tempo des Infektionsprozesses inzwischen geändert hat. Heute schützt sich das medizinische Personal, so gut es geht. Nun, an manchen Orten mangelt es immer noch an Schutzausrüstung, aber im Allgemeinen schützen sich die Mitarbeiter des Gesundheitswesens so gut sie können, denn sie stehen wie überall an vorderster Front im Angesicht der Pandemie. Die Frauen und Männer, die dort arbeiten, sind unsere Helden für die Gesundheit.
Können Sie uns sagen wo wir uns weiter informieren können?
Die Regierung hat eine Hotline, bei der Sie Informationen erhalten können. Es gibt aber auch verschiedene Expert*innen und medizinische Innungen, die ständig Informationen zur Verfügung stellen. Das MCN stellt Informationen über sein kommunales Gesundheitsnetz zur Verfügung. Die Gesundheitsbrigadist*innen sind gegenüber der Gesundheit der Bevölkerung auf Land sehr aufmerksam. Sie sind sozusagen das Fieberthermometer der Realität in den Gemeinden. Sie sind ein Ausdruck der Gemeinde-Epidemiologie, bzw. des Wissens in den Gemeinden. Auch die Medien liefern Informationen.
Kurz gesagt, wir arbeiten also angesichts einer unbekannten Realität, in der die Wissenschaft, die Gemeinden, die Regierungen, die Wirtschaft und alle versuchen, die Situation in der wir uns befinden, zu bewältigen, und von der ich mir sicher bin, dass wir vorankommen können. Vor allem mit der präventiven und erzieherischen Rolle und dem Protagonismus der Individuen, Familien und Gemeinschaften. Die Regierung spielt natürlich eine große Rolle bei der Vorbeugung und Beseitigung der Auswirkungen. Es hat sich jedoch gezeigt, dass die Antwort in den Händen der Menschen liegt, in ihrer Verantwortung, mit der Begleitung des Staates, gemeinsam mit den organisierten und aktiven Gemeinden. Das MCN leistet dazu seinen Beitrag.
Gefördert durch Engagement Global mit Mitteln des
Für den Inhalt dieser Publikation ist allein das Ökumenische Büro für Frieden und Gerechtigkeit e.V. verantwortlich; die hier dargestellten Positionen geben nicht den Standpunkt von Engagement Global oder des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung wieder.