„Wir haben keine Angst“ – Nicaragua erhebt sich gegen seinen Präsidenten

Von Öku-Büro, München, 22.04.2018.

In Nicaragua sind bei Protesten gegen die Reformen im System der Rentenkassen laut Zahlen des Menschenrechtszentrums CENIDH mindestens 25 Menschen ums Leben gekommen. 64 weitere wurden verletzt. 43 Personen gelten als verschwunden, weitere 20 wurden verhaftet. Darüber hinaus wurden verschiedene Fernseh- und Radiokanäle welche über die Proteste berichtet haben vom Netz genommen.

 

Ausgangspunkt der Ereignisse war die am vergangenen Mittwoch bekanntgewordene Reform des Rentensystems. Demnach sollen die aktuellen Bezüge um 5% gekürzt werden, während die Beiträge für Arbeitnehmer*innen für die Altersvorsorge ab 1. Juli von 6,25% auf 7% steigen sollen. Der Anteil der Arbeitgeber*innen hingegen steigt in dem paritätisch finanzierten Vorsorgesystem stufenweise von 19% bis auf 22,5% im Jahre 2020.

Laut Regierung seien diese Änderungen notwendig gewesen um die Sozialkassen vor dem Zusammenbruch zu bewahren, sowie das Renteneintrittsalter von 60 Jahren konstant zu halten. Kritiker hingegen werfen der Regierung Misswirtschaft vor und verurteilen die Erhöhung der Sozialbeiträge.

Hintergrund der Proteste

Allerdings lassen sich die derzeit in weiten Teilen des Landes zu beobachtenden Demonstrationen und Ausschreitungen nicht allein durch die Reformen des INSS (Nicaraguanisches Sozialministerium) erklären - Berichte von Protesten kommen unter anderem aus der Hauptstadt Managua, Leon, Estelí, Masaya und Matagalpa.

Zu bedenken ist, dass von den Reformen des INSS wohl weniger als 25% der Bevölkerung betroffen sind. Viele Menschen arbeiten in prekärer Selbstständigkeit bzw. im informellen Sektor. Stattdessen dürfte sich ein seit Jahren aufgestauter Frust über die jahrelang anhaltende Korruption, Vetternwirtschaft sowie über einen gewissen politischen Autoritarismus entladen. So hat es der regierende Präsident Daniel Ortega (FSLN) gemeinsam mit seiner Frau Rosario Murillo geschafft, alle bedeutenden Institutionen des Staates unter Kontrolle zu bringen. Loyalität bei Teilen der Bevölkerung werden in einem System des Klientelismus, durch direkte Zuwendungen oder das Verschaffen von Posten erkauft. Auf staatliche Angestellte hingegen wird Druck ausgeübt, um bei Demonstrationen oder öffentlichen Anlässen als Unterstützer*innen der FSLN aufzutreten. Wer sich dem entziehen möchte oder kritisch Position bezieht, muss damit rechnen entlassen zu werden. Unabhängigen Organisationen wird das Leben schwer gemacht, indem der Zugang zu Geldern erschwert bzw. deren Gemeinnützigkeit aberkannt wird. Besonders Vereinigungen, welche sich für die Rechte der Frauen einsetzen sind von diesen Repressalien betroffen. Weitere Konflikte entzünden sich an der Ausweitung von Bergbauaktivitäten oder Landkonflikten im Zuge der Abholzung von Wäldern. Auf der Route des geplanten Nicaraguakanals im Süden des Landes ist eine starke und entschlossen Gegenbewegung entstanden. Deren Vertreter haben angekündigt sich nicht lebendig vertreiben zu lassen.

Während es Ortega und seiner Frau in der Vergangenheit gelungen ist, den Unmut ohne den Einsatz massiver Gewalt unter Kontrolle zu halten, scheint ihnen diese Fähigkeit Stück für Stück abhanden zu kommen. So werden immer öfters Demonstrationen durch Spezialeinheiten der Polizei oder Schlägertrupps der sandinistischen Jugend aufgehalten bzw. angegriffen. Als vor kurzem weite Teile des Naturschutzgebietes Indio Maiz in Flammen standen, hinderten die Sicherheitskräfte zahlreiche Freiwillige in die Region vorzudringen. Dieses Verhalten erhöht zunehmend das Misstrauen gegenüber der Herrschaft der FSLN, welche sich in der Vergangenheit jeglichen Dialogversuchen der Zivilgesellschaft entzogen hat.

„Wir haben keine Angst“

Während die Repression auf dem Land gegen die Antikanalbewegung weniger öffentlich geschieht, scheint die Gesellschaft von Nicaragua die Ereignisse seit vergangenem Donnerstag nicht mehr hinnehmen zu wollen. So kamen bereits am ersten Tag der Proteste im Umfeld des Polytechnikums (UPOLI), in Mitten der Hauptstadt drei Menschen ums Leben. Darunter auch ein Polizist. Als Konsequenz daraus schlossen sich immer mehr Menschen unter dem Motto: „No tenemos miedo“ („Wir haben keine Angst“) den Protesten an.

Stand Samstagabend gab es Demonstration, Blockaden und Zusammenstöße an verschieden Punkten des Landes. Zum Teil gingen Gebäude in Flammen auf. Zahlreiche „Lebensbäume“ (beleuchte, meterhohe Bäume aus Metall in der Hauptstadt) wurden umgestoßen und angezündet. Rund um die UPOLI wurden Barrikaden errichtet. Dort werden die Studenten von der Zivilbevölkerung mit Wasser und Lebensmitteln unterstützt. Berichten zufolge wollen auch Mitglieder der Antikanalbewegung in die Hauptstadt vordringen.

Am Samstag wurde von Seiten des Präsidenten bzw. seiner Frau, der Vizepräsidentin, viel von Dialog geredet. Zeitgleich jedoch wurden auf den Straßen und rund um die besetze Universität Kräfte der Polizei und des Militärs zusammengezogen.

Neben dem Druck der Bevölkerung scheint der Präsident auch von Seiten der eigenen Alliierten in Bedrängnis zu geraten. So hat der mächtige Unternehmerverband COSEP die Angestellten des Privatsektors sowie die Bevölkerung für Montag den 23. April zu Demonstrationen für Frieden und gegen die Reformen des INSS aufgerufen. Die katholische Kirche Nicaraguas rief die Sicherheitskräfte zur Zurückhaltung auf. In den sozialen Medien stoßen die Manöver des Unternehmerverbandes jedoch auch auf Kritik, da dieser eher dem traditionellen Machtzentrum bzw. der politischen Rechten zugeordnet wird.

Angesichts dieser Situation scheint dem amtierenden Präsidenten Ortega mehr und mehr die Kontrolle über die Situation aus den Händen zu gleiten. So werden die Demonstrationen trotz des massiven Einsatzes der Sicherheitskräfte und der zunehmenden Zahl von Todesopfern eher größer anstatt kleiner. Allerdings bleibt abzuwarten ob und wie innerhalb dieses Szenarios ein fruchtbarer Dialog bzw. ein modifiziertes Gesellschaftsmodell entstehen kann.

Zurück zur Newsübersicht