Nicaraguanische Justiz setzt Straffreiheit fort
von Öku-Büro. Vergangene Woche (Donnerstag, 19. November 2020) wurde der Regierungsanhänger und Gemeindeangestellte der Stadt Estelí, Abner Pineda, nach einem mehr als umstrittenen Richterspruch aus dem Gefängnis entlassen. Pineda war beschuldigt worden, im Juli dieses Jahres den Regierungsgegner Jorge Rugama Rizo nach einem Streit erschossen zu haben und nach der Tat an der Brandstiftung am Haus von dessen Familie beteiligt gewesen zu sein.
Der Angeklagte hat die Tat weitgehend gestanden und auch das Gericht sieht die Schuld des Täters als erwiesen an. Doch anstatt ein Strafmaß zu verhängen, das für Mord oder zumindest Totschlag angemessen wäre, wurde Pineda wegen fahrlässiger Tötung (homicidio imprudente) zu lediglich einem Jahr Gefängnis verurteilt. Dieses milde Urteil und die unverzügliche Freilassung wurden mit einem beim Täter festgestellten psychischen Trauma begründet. Dieses sei durch den „gescheiterten Staatsstreich im April 2018“ verursacht worden.
Selbst wenn ein Trauma mit ein Grund für einen solchen Akt der Gewalt gewesen sein sollte, erscheint es doch mehr als gefährlich, einen Menschen, der sich in einer derartigen psychischen und geistigen Verfassung befindet, nach nur wenigen Wochen Therapie wieder auf freien Fuß zu setzen. Die geradezu offen zur Schau gestellte Milde dieses Urteils steht dabei in krassem Gegensatz zum Diskurs der Regierung der vergangenen Wochen und einer im Parlament eingebrachten Gesetzesinitiative. Demnach sollten Hassverbrechen in Zukunft eigentlich mit lebenslanger Gefängnisstrafe belegt werden können.
Auch erweckt ein solcher Vorgang den Verdacht, dass das „Verständnis“, welches die nicaraguanische Justiz Beschuldigten entgegenbringt, nicht unabhängig von deren politischer Orientierung erfolgt. Denn während der für den Tod von Jorge Rugama Rizo Verantwortliche nach gut vier Monaten Untersuchungshaft sein Leben in Freiheit genießen kann, befinden sich derzeit mehr als hundert Menschen, die der Opposition zugerechnet werden, aufgrund von teilweise zweifelhaften Anschuldigungen für weit weniger schwere Delikte, wie zum Beispiel Drogenbesitz, im Gefängnis.
Auf gesellschaftlicher Ebene hat sich seit den Protesten im Jahr 2018 und deren Niederschlagung die ohnehin vorhandene Polarisierung der Gesellschaft weiter verschärft. Bis heute leiden Regierungsgegner*innen unter der permanenten Kontrolle durch die Polizei bzw. unter den Gängeleien von Regierungsanhänger*innen, während faktisch ein Demonstrationsverbot gilt.
Auf der anderen Seite ist jedoch auch das Gewaltpotential gegenüber Aktiven der Regierungspartei FSLN nach wie vor hoch. So fiel am Tag nach dem Urteil José Santos González Rivera in San Ramón (Departement Matagalpa) einem Mordanschlag zum Opfer.Facebook-Seiten von Regierungsgegner*innen feierten den Mord bereits kurz nach der Tat als eine erfolgreiche Aktion eines Kommandos der Resistencia Nicaragüense (Nicaraguanischer Widerstand)
Aktuell liegen keine belastbaren Beweise dafür vor, dass der Mord an José Santos González als unmittelbare Reaktion auf die Freilassung Abner Pinedas zu werten ist. Sollte es der Regierung von Daniel Ortega jedoch nicht endlich gelingen, mit dem System der Straffreiheit zu brechen und auch die eigenen Anhänger*innen und Sicherheitskräfte für Verbrechen gegen den politischen Gegner zu bestrafen, ist zu erwarten, dass sich solche Akte der Selbstjustiz wiederholen und die gefährliche Polarisierung in der Gesellschaft weiter zunimmt.