Editorial

Über ein halbes Jahr lang haben wir 2023 den mexikanischen Menschenrechtsverteidiger und Wissenschaftler León Ávila Romero gemeinsam mit seiner Partnerin Jeyma Miller in München durch die Höhen und Tiefen eines temporären Schutzaufenthaltes begleitet. Zwei Sätze von León auf der Fahrt zum Flughafen sind uns besonders im Gedächtnis geblieben. Der eine war ironisch gemeint: „Jetzt war ich so lang in Deutschland und hab's doch verpasst, endlich mal mit 200 Sachen über die Autobahn zu brausen.“ Und der andere bitter ernst: „Wenn ihr hier in Deutschland so weiter macht, habt ihr in den dreissiger Jahren wieder Faschisten an der Regierung.“ Es ist kein Zufall, dass wir die Rückschau auf das vergangene Jahr mit einem Blick aus dem so genannten Globalen Süden auf uns hier im Globalen Norden beginnen. Das Jahr war schwierig, wir hatten zu kämpfen, um all die Aktivitäten gut umzusetzen, die wir uns vorgenommen hatten. Vor allem aber erfuhren wir sehr stark, wie sich „shrinking spaces“ hier bei uns anfühlen. Die Verengung von Diskurs- und Aktionsräumen wurde ja in den letzten Jahren in der NGO-Szene gerne mal für anderswo diagnostiziert. Wir spürten den Effekt, den die schon lange existierenden, aber jetzt für alle grausam evidenten Doppelstandards in der hiesigen Menschenrechtspolitik auch in Lateinamerika haben. Solidarität – Wie? Mit wem? Mit wem nicht? Höchste Zeit, unser altes Ökubüro-Motto von den gemeinsamen Kämpfen von „Nord“ und „Süd“ für Veränderung neu zu reflektieren und zu beleben...
Für alle, die schon mal einen kurzen Überblick haben möchten, was in unseren Schwerpunktländern 2023 los war, hier die knappe Zusammenfassung der Länderkapitel dieses Jahresberichtes

Mexiko

Die sechsjährige Amtszeit von Andrés Manuel López Obrador (AMLO) endet demnächst und hinterlässt eine wahrhaft besorgniserregende Menschenrechts- und Umweltbilanz. Mexiko gehört zu den fünf gefährlichsten Ländern der Welt für Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*inneni. Obwohl diese Krise nicht mit dieser Regierung begann, hat sich die Menschenrechtslage während ihrer Amtszeit nicht verbessert.

Kolumbien

2023 war Kolumbien weiterhin mit einer komplexen Menschenrechtssituation konfrontiert, insbesondere für ethnische Gemeinschaften in ländlichen Gebieten. Der Amtsantritt von Präsident Gustavo Petro weckte Hoffnungen auf deutliche Veränderungen für die am meisten gefährdeten Bevölkerungsgruppen des Landes. Im vergangenen Jahr gab es jedoch politische und soziale Herausforderungen, die den Weg des Wandels erschwerten. Die Regierungsinstitutionen sahen sich mit dem Erbe früherer Verwaltungen oder mit einigen der derzeitigen regionalen und lokalen Machthaber*innen konfrontiert. Zudem gab es Kritik an der Regierung, beispielsweise für exzessive Ausgaben oder für die Vergabe von Aufträgen an enge Freunde der Präsidentenfamilie. Das Land hat trotzdem wichtige Fortschritte gemacht.

El Salvador

Der Ende März 2022 verhängte Ausnahmezustand beschnitt auch 2023 elementare Bürgerrechte, während Präsident Nayib Bukele zunehmend autokratisch regiert und hart gegen Regierungskritiker*innen vorgeht.  Im Ausnahmezustand wurde bis Jahresende über 75.000 Personen, darunter viele ohne Anklage und Prozess, in die ohnehin überfüllten Gefängnisse gesperrt. Besonders verarmte Jugendliche leiden unter der Stigmatisierung als angebliche Bandenmitglieder. Sie laufen täglich Gefahr, willkürlich verhaftet zu werden. Deshalb migrieren viele in die USA. In den Gefängnissen in El Salvador kommt es zu massiven Menschenrechtsverletzungen, sowie Folter und außergerichtlichen Tötungen. Betroffen sind auch Aktivist*innen aus den sozialen Bewegungen.

Honduras

Die Mitte-Links Regierung der Partei Libre von Xiomara Castro war Ende Januar 2022 angetreten, um die Strukturen des seit dem Putsch 2009 errichteten korrupten Narcostaates zu demontieren und Grundlagen für eine Neugründung von Honduras zu schaffen. Zur Mitte ihrer Amtszeit Ende 2023 fällt die Bilanz nach Auffassung der meisten Analyst*innen allenfalls gemischt aus.(1) Für Verteidiger*innen von Menschenrechten auf dem Land, Umweltaktivist*innen und Journalist*innen war 2023 in Honduras sogar ein besonders schwieriges und für mindestens 17 von ihnen tödliches Jahr.

Nicaragua

Im vergangenen Jahr hielt die Repression durch die nicaraguanische Regierung unvermindert an, wobei die katholische Kirche das Hauptziel war. Neu war, dass Kritiker*innen ausgewiesen werden und ihnen die Staatsbürgerschaft entzogen werden kann. Gleichzeitig leisteten die Migrant*innen, die in den letzten Jahren in großer Zahl das Land verlassen haben, einen entscheidenden Beitrag für die nicaraguanische Wirtschaft. Ihre Rücküberweisungen übersteigen inzwischen die Exporterlöse Nicaraguas. Die Regierung hofft indes in der Außenwirtschaft, die unvermindert auf die USA ausgerichtet ist, auf die Ausweitung des Handels mit der Volksrepublik China, mit der sie im August 2023 ein Freihandelsabkommen unterzeichnete.

Aktivitäten des Ökumenischen Büros

Wir haben es sehr genossen, dass wir nach zwei Pandemie-Jahren unsere Arbeit fast wieder normal gestalten konnten. Vor allem der persönliche Kontakt zu unseren Partnerorganisationen war wieder uneingeschränkt möglich. So konnten alle hauptamtlichen Mitarbeiter*innen Dienstreisen nach Mexiko, Honduras, El Salvador, Nicaragua und erstmals auch nach Kolumbien unternehmen. Auch Gegenbesuche fanden statt und ermöglichten zwei sehr gelungene Rundreisen. Besonders hinweisen möchten wir dabei auf die Deutschlandtournee mit dem Titel „Abya Yala RapToure – Frauen, die kämpfen. Frauenrechte in Lateinamerika und kreativer Widerstand aus der Hip-Hop Szene“, die im Rahmen unseres Querschnittthemas „Widerstand gegen das Patriarchat“ entstand. Auf unsere weiteren, vielfältigen Aktivitäten gehen wir in den Kapiteln dieses Jahresberichtes näher ein.

Neben allem Positiven hatte das Jahr 2022 auch zwei negative Aspekte für uns bereit: Wir erfuhren, dass wir 2023 mit deutlich weniger Finanzmitteln und mit einer hauptamtlichen Kraft weniger auskommen müssen. Zum einen fiel die langjährige Förderung einer Teilzeitstelle weg, zum anderen verließ uns unser El Salvador- und Nicaragua-Referent Samuel Weber Ende Januar 2023. Wir danken Samuel herzlich für seinen langjährigen Einsatz für das Ökubüro und wünschen ihm ganz viel Glück und Erfolg bei seinen neuen Aufgaben in der Wissenschaft auf dem lateinamerikanischen Kontinent.

Dafür, dass unsere Arbeit möglich war und im 40. Jahr unseres Bestehens 2023 weiter möglich ist, sind wir vielen zu Dank verpflichtet. An erster Stelle danken wir allen Hauptamtlichen ganz herzlich für ihren Einsatz. Das gilt auch für all die anderen, die auf unterschiedlichste Art zum Gelingen unserer Arbeit beigetragen haben: die ehrenamtlichen Mitarbeiter*innen, die Kooperationspartner*innen sowie unsere treuen und neuen Spender*innen. Und schließlich möchten wir den Organisationen, die unsere Arbeit im Jahr 2022 finanziell unterstützt haben, herzlich danken. In alphabetischer Reihenfolge waren dies: Brot für die Welt – Evangelischer Entwicklungsdienst, Engagement Global, Katholischer Fonds, Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Misereor, Missionszentrale der Franziskaner.

Allen, denen wir zu Dank verpflichtet sind und denen, die sich uns freundschaftlich verbunden fühlen, wünschen wir das, was wir uns wünschen – nämlich, dass 2023 trotz allem noch zu einem Jahr wird, in dem Frieden und Vernunft ihren Platz finden.

Das Ökubüro-Team mit dem Stipendiaten der Elisabeth-Selberth-Initiative (ESI) León Avila undJeyma Miller (Bildmitte) vor dem Büro in München-Haidhausen.
Das Ökubüro-Team mit dem Stipendiaten der Elisabeth-Selberth-Initiative (ESI) León Avila undJeyma Miller (Bildmitte) vor dem Büro in München-Haidhausen. Quelle: Ökubüro

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