Nicaragua
Länderteil
Die Regierung Ortega – Murillo hat im vergangenen Jahr die Repression noch einmal verschärft. All diejenigen aus Politik, Medien und dem Unternehmerverband, die vor der Präsidentschaftswahl 2021 verhaftet worden waren, wurden zu hohen Gefängnisstrafen verurteilt. Nachdem damit die politische Opposition ausgeschaltet worden war, richtete sich 2022 die Repression auf die Zivilgesellschaft. Inzwischen wurde der Hälfte aller Nichtregierungsorganisationen die Rechtspersönlichkeit entzogen. Neu im Jahr 2022 war die Repression gegen die Katholische Kirche. Im Zentrum stand der Bischof von Matagalpa, Rolando Álvarez, der seit August unter Hausarrest steht. Parallel zu dieser allgegenwärtigen Repression wuchs die Zahl der nicaraguanischen Emigrant*innen dramatisch an.
Der Tod von Hugo Torres
Am 10. Januar trat Daniel Ortega seine vierte Amtszeit in Folge an und sie begann wie die dritte geendet hatte: mit Repression, konkret mit Prozessen gegen die 40 Oppositionellen, die vor der Präsidentschaftswahl 2021 verhaftet worden waren. Alle wurden verurteilt mit Ausnahme von Hugo Torres. Der 73-jährige ehemalige Guerillaführer war vor Prozessbeginn, nach acht Monaten in der Haft, gestorben. Sein Tod löste weltweit tiefes Bedauern aus, dem sich sogar Daniel Ortegas Bruder Humberto anschloss. Vom nicaraguanischen Präsidenten selbst aber, den Hugo Torres 1974 mit einem waghalsigen Kommando aus der Somoza-Haft befreit hatte, kam kein Wort. Immerhin aber entschied kurz darauf die nicaraguanische Regierung, einige ältere Inhaftierte und solche mit Gesundheitsproblemen aus dem Gefängnis in den Hausarrest zu verlegen.
„Untergrabung der nationalen Integrität“ und „Verbreitung von Falschmeldungen“
So lauteten die Vorwürfe gegen die 40 Oppositionellen, Journalist*innen und Unternehmervertreter. Auch seitdem die Urteile – Freiheitsstrafen zwischen 8 und 13 Jahren – gesprochen sind, ist völlig unklar, was den Beschuldigten konkret vorgeworfen wird, denn mehr als diese Vorwürfe sind meistens nicht bekannt. In Verletzung der verfassungsmäßigen Bestimmungen, die öffentliche Verhandlungen in Gerichtsgebäuden vorschreiben, wurden die Prozesse ohne Begründung im Gefängnis und unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt. Die wenigen Informationen über den Prozessverlauf, die in oppositionellen Medien erschienen sind, stammen von Angehörigen und den Verteidiger*innen, wenn diese nicht – aus Angst vor den zu erwartenden Repressionen – lieber schwiegen. Teilweise wurde sogar nahen Angehörigen der Zutritt zur Verhandlung verwehrt. Die Regierung, die Justiz und die ihnen nahestehenden Medien, die die Verhaftungen im Jahr zuvor noch groß herausgestellt hatten, schwiegen zu den Verurteilungen total.
Einige der bekannt gewordenen Details sind bemerkenswert. So wurde immer wieder berichtet, dass als Zeugen der Anklage nur die Polizisten auftraten, die die Verhaftung durchgeführt hatten. Beweisstücke beschränkten sich auf beschlagnahmte Handys und Postings in sozialen Medien. Ein Aufruf zum Boykott der Präsidentschaftswahlen galt als Beweis für eine „Verschwörung zur Untergrabung der nationalen Integrität“.(1) Der Beschuldigte erhielt eine Haftstrafe von zwölf Jahren. Die wichtigsten „Beweismittel“ gegen Dora María Tellez (MRS – Unamos) waren zwei geteilte Tweets. Der eine Tweet kam von dem Ex-Direktor von Human Rights Watch, der andere von einer Privatperson, die einen Brief von US-Senatoren weitergeleitet hatte, in dem weitere Sanktionen gegen Nicaragua gefordert wurden.(2) Diese „Beweise“ machen sehr deutlich, was von den Gerichtsverhandlungen gegen die politischen Gefangenen zu halten ist.
Angriff auf die Zivilgesellschaft
Das Jahr 2022 wird wahrscheinlich in die Geschichte eingehen als das Jahr, in dem in einem einzigen Land die meisten Nichtregierungsorganisationen (NRO) ihre Arbeit einstellen mussten. Mehr als 3000 NROs verloren 2022 in Nicaragua ihren Rechtsstatus.(3) Damit musste fast die Hälfte ihre Arbeit einstellen. Erreicht wurde dies mit der Verschärfung der Rechtsvorschriften. Die Regelung der Gemeinnützigkeit wurde reformiert, mit Schwerpunkt auf Bekämpfung von Terrorismus und Geldwäsche.(4) Wie sich aber inzwischen gezeigt hat, werden die neuen schärferen Vorschriften besonders dazu verwendet, unabhängigen Organisationen den Rechtsstatus zu nehmen. So ging es inzwischen fast allen bekannten NROs, egal ob sie zu Frauen, zur Umwelt arbeiten oder karitativ ausgerichtet sind. Weil sie die neuen Vorschriften nicht eingehalten hätten, wurde ihnen ihr Status aberkannt und sie mussten schließen. Auch private Universitäten waren betroffen. Mehrfach berichteten Organisationen, wie zum Beispiel die Umweltorganisation Centro Humboldt oder die Frauenorganisation Maria Elena Cuadra, dass die zuständige Abteilung im Innenministerium einfach die Annahme ihrer Dokumente verweigert hätte, um ihnen dann wegen Nichteinhaltung der Fristen für die Vorlage der geforderten Unterlagen zu kündigen.(5)
Einreiseverweigerung für Nicaraguaner*innen
Ein weiteres perfides Mittel wurde in diesem Jahr vor allem gegenüber kritischen Intellektuellen angewendet. Nach Auslandsreisen verweigerte man ihnen bei der Rückkehr einfach die Einreise. Opfer dieses schrecklichen Mittels wurden im vergangenen Jahr unter anderen die bekannte Feministin María Teresa Blandón, der Universitätsprofessor Jorge Huete und mehrere katholische Priester.(6)
Repression gegen die Katholische Kirche
Auffällig war die Zunahme der Repression gegen Institutionen und Mitglieder der Katholischen Kirche. Es begann im März mit der Ausweisung des katholischen Nuntius Waldemar Sommertag, setzte sich fort mit der Schließung einiger kirchlicher Radiosender und gipfelte im August in der Festnahme des Bischofs von Matagalpa, Rolando Álvarez. Im Dezember wurde auch gegen ihn Anklage wegen „Verschwörung zur Untergrabung der nationalen Integrität“ erhoben.(7)
Internationale Reaktionen
Hier können weder alle Fälle von willkürlichen Verhaftungen dargestellt werden noch die unmenschlichen Haftbedingungen im Detail beschrieben werden. Einen Gesamteindruck liefern die regelmäßigen Berichte des „Mechanismus zur Anerkennung von politischen Gefangenen“. In dem letzten Bericht, der mit dem Januar 2023 endet(8), wird die Zahl der politischen Gefangenen in Nicaragua mit 245 angegeben, von denen 20 im Jahr 2022 neu festgenommen wurden.
Auf internationaler Ebene gab es eine Vielzahl von Versuchen, auf die Regierung Nicaraguas einzuwirken. Die USA und die EU haben ihre Sanktionen verlängert bezieungsweise erweitert. Die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte (CIDH), der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte (Corte IDH) und das Hohe Kommissariat für Menschenrechte der UNO befassten sich mehrfach mit der Situation der Menschenrechte in Nicaragua. Die Regierung Ortega – Murillo verweigerte aber jegliche Zusammenarbeit. Stattdessen beschleunigte Nicaragua seinen Austritt aus der OAS und wies deren Vertretung aus.(9) Die Nicaraguaner*innen selbst wurden theoretisch auch befragt, denn 2022 fanden Kommunalwahlen statt. Die Wahl fand ohne eine echte Opposition statt und war intransparent wie immer. So war es kaum noch überraschend, dass der Oberste Wahlrat alle Bürgermeisterämter der FSLN zusprach, ein weiterer Schritt des Landes auf dem Weg zur Einheitspartei. Das Interessanteste an der Wahl war die offizielle Zahl der Wahlberechtigten. Die war überraschenderweise um 750.000 geringer als bei der Nationalwahl im Jahr zuvor.(10) Eine offizielle Erklärung dafür gab es nicht,
Die Zahl der Nicaraguaner*innen, die ihre Heimat verlassen, steigt auf über 200.000.
Aber vielleicht hängt es einfach damit zusammen, dass die Zahl der Emigrant*innen im Jahr 2022 dramatisch angestiegen ist. Zwar gibt es dazu keine direkten Zahlen, aber eine Menge von Fakten, die diesen enormen Anstieg belegen. Vor allem nahm die Emigration in die USA wie schon 2021 im Jahr 2022 noch einmal stark zu. Dies zeigt deutlich die Zahl der Abschiebungen, die die Zoll- und Grenzschutzbehörde der Vereinigten Staaten von Amerika (CBP) monatlich veröffentlicht.(11) Demnach wurden 2022 insgesamt 164.600 Nicaraguaner*innen beim Versuch, unerlaubt die Grenze der USA zu passieren, abgeschoben. Dies waren mehr als dreimal so viele wie im Jahr zuvor (50.722). Im Jahr 2020 waren es noch weit weniger als 10.000 gewesen.
Dass diese Entwicklung nicht nur wirtschaftliche Gründe hat, sondern dass die Ursachen auch in der zunehmenden Repression zu suchen sind, zeigt ein Mitte Juni veröffentlichter Bericht des UNHCR.(12) Daraus geht hervor, dass Nicaraguaner*innen im Jahr 2021 weltweit die zweitmeisten Asylanträge gestellt haben, nach afghanischen Geflüchteten. Die 116.000 Anträge sind fünfmal mehr als im Jahr 2020. Fast alle Asylanträge wurden in Costa Rica gestellt. Nicht nur bekannte Politiker*innen, Aktivist*innen und Menschenrechtler*innen mussten ihre Heimat verlassen, sondern viele mehr entschlossen sich zu gehen.
Aktuelle Ergänzung
Am 9. Februar dieses Jahres 2023 hat Nicaragua völlig überraschend 222 politische Gefangene ausgewiesen und in die USA ausgeflogen. Zur gleichen Stunde trat in Managua die Nationalversammlung zusammen und erweiterte die Verfassung um den Zusatz: „Vaterlandsverräter verlieren ihre nicaraguanische Nationalität“. Das galt vor allem für die Menschen, die gerade nach Washington geflogen wurden.(13) Die USA nahmen die Ausgebürgerten auf und garantierten ihnen ein Bleiberecht von zwei Jahren. Im Augenblick ist es völlig unmöglich zu beurteilen, was das Geschehen für die Zukunft bedeutet. Das kann aber nicht unsere Freude mit den Freigelassenen und ihren Angehörigen über die neu gewonnene Freiheit beeinträchtigen.
(1) https://www.confidencial.digital/nacion/doce-anos-de-carcel-por-opinar-en-facebook-y-mensajes-de-whatsapp/
(2) https://www.confidencial.digital/nacion/condenas-a-presos-politicos-basadas-en-pruebas-ridiculas/
(3) https://www.laprensani.com/2022/12/01/politica/3073768-dictadura-ha-eliminado-la-mitad-de-ong-que-existian-antes-de-2018-acaba-de-anular-100-mas
(4) http://digesto.asamblea.gob.ni/consultas/util/pdf.php?type=rdd&rdd=4aHWMzYr4%2FM%3D
(5) https://humboldt.org.ni/wp-content/uploads/2022/03/Cancelacion_PJ_CH_Nota-de-Prensa.pdf
https://www.laprensani.com/2022/02/21/nacionales/2954365-el-modo-de-operar-del-migob-se-niega-a-recibir-documentos-de-ong-y-luego-las-cancela-por-incumplimientos
(6) https://www.confidencial.digital/nacion/los-desterrados-por-el-regimen-padre-blandon-me-estan-crucificando/
(7) https://www.poderjudicial.gob.ni/prensa/notas_prensa_detalle.asp?id_noticia=12187
(8) Mecanismo para el Reconocimiento de Personas Presas Políticas, Informe Diciembre 2022 – Enero 2023,
https://presasypresospoliticosnicaragua.org/wp-content/uploads/2023/02/b2a54ec9-be29-41e1-af81-af52aaae83ab.pdf
(9) Nicaragua expulsa a la OEA, https://www.el19digital.com/articulos/ver/titulo:127440-nicaragua-expulsa-a-la-oea
(10) 15 de Noviembre 2021, El padrón electoral superó 4 millones (4,478,334),
https://www.el19digital.com/Elecciones2021/articulo/titulo:122791-diez-claves-en-elecciones-soberanas-de-nicaragua-que-claman-al-mundo
22 de septiembre de 2022, El Padrón Electoral está conformado por 3,722,884 ciudadanos y ciudadanas,
https://www.el19digital.com/Elecciones2022/articulo/titulo:132544-cse-entrega-padron-electoral-y-cartografia-electoral-definitiva-a-partidos-politicos
(11) https://www.cbp.gov/newsroom/stats/nationwide-encounters
(12) https://www.acnur.org/es-mx/stats/globaltrends/62aa717288e/tendencias-globales-de-acnur-2021.html
(13) https://www.el19digital.com/articulos/ver/titulo:136779-nicaragua-ordena-la-deportacion-de-222-traidores-a-la-patria
https://www.el19digital.com/articulos/ver/titulo:136780-reforma-constitucional-todo-traidor-a-la-patria-pierde-la-condicion-de-nacional