Flucht & Asyl
Flucht nach Deutschland: Kein Schutz trotz Lebensgefahr
An einem heißen Sommertag erreicht uns im Ökubüro ein Anruf: Eine junge Trans*Aktivistin aus Kolumbien warte vor dem Ankunftszentrum für Geflüchtete in der Münchner Maria-Probst-Straße. Ein Security-Mann habe sie angeschrien, rausgeworfen und lasse sie nun nicht wieder zurück. Wir machen uns auf den Weg und aus einer kurzen Begegnung, voll Tränen, Lachen, Kummer und Hoffnung, wird ein gemeinsamer Weg für den Rest des Jahres und darüber hinaus: Maria Victoria Leguizamo Parales, eine der bekanntesten Menschenrechtsverteidiger*innen für die Rechte von Transgender-Personen, hat sich entschlossen, in Deutschland Asyl zu suchen. Nach dem Hochgefühl des One Young World Summit, zu dem sie eingeladen war, folgen bittere Erfahrungen von Diskriminierung, Bullying durch Sicherheitskräfte, Schutzlosigkeit, Gewalt, Retraumatisierung, zuerst in München, dann im Camp im niedersächsischen Oerbke.
Aber Maria Victoria ist eine Kämpferin, sie gibt nicht auf. In ihrem Heimatdepartement Arauca hat sie aus dem benachbarten Venezuela geflüchtete Trans*Frauen begleitet, empowert, für sie und mit ihnen für ihre elementaren Rechte gekämpft, Verbrechen angezeigt, der Polizei die Stirn geboten. Zuvor war sie die erste Trans*Frau in Kolumbien, die ihren korrekten weiblichen Namen im Pass eingetragen bekam. Auch das wollte erkämpft sein. Dann arbeitete sie als erste Trans*Frau in einer öffentlichen Verwaltung – in der Hauptstadt Bogotá, weithin sichtbar und mit Erfolg. Als sie mit gerade mal 25 Jahren nach Deutschland kommt, hat sie schon ein ganzes Leben gelebt: im Bürgerkrieg mit der Familie vom Land in die Stadt vertrieben, dort vom Stiefvater verstoßen, als Straßenkind von Sexarbeiterinnen aufgenommen und beschützt, ihre Beschützerinnen ermordet gefunden. Mit Unterstützung der Großmutter Schule und Abitur erkämpft. In Häusern reicher Leute geputzt und schließlich an der Abend-Uni mehrere Semester Jura studiert. In Arauca wird María Victoria von Bewaffneten bedroht. In ganz Kolumbien ist sie als Trans*Frau und Menschenrechtsaktivistin potentielles Ziel von politischer Verfolgung, Attentaten und Hassverbrechen gleichermaßen. Wie oft schon haben wir den Satz gehört: „Ich will nicht die nächste sein.“ So auch von ihr. 35 Trans*gender Personen wurden allein 2021 in Kolumbien umgebracht.(1)
Wegen der zwangsweisen Verteilung von Geflüchteten auf verschiedene Bundesländer ist es unmöglich, dass Maria Victoria bei uns in München bleibt, unmöglich, ihr einen sicheren Ort zu bieten. Nach ihrem Antrag auf Asyl erwartet sie das nächste „Camp“. Ein ehemaliges britisches Militärlager in der niedersächsischen Heide, eingezäunt und abgeschottet im Nirgendwo zwischen verfallenen Industriebauten und dunklen Waldstücken: Tag für Tag das Gefühl von Ohnmacht und Entrechtung. Schließlich achteinhalb Stunden Asylanhörung, 20 Minuten Mittagspause, Fragen über Fragen. Weit mehr als wir uns in der Anhörungsvorbereitung gemeinsam mit Arrival Aid München überhaupt nur vorstellen konnten. Nach sieben Stunden verschwimmen in der Erschöpfung und Kälte (der emotionalen Kälte der Dolmetscherin und der physischen, weil wegen COVID die Fenster auch im November offen bleiben müssen) die Grenzen zum Verhör: Wenn Sie in Arauca nicht sicher leben können, dann könnten Sie ja in Bogotá leben? Wenn Sie nicht in Bogotá leben können, dann könnten Sie ja in Medellín leben? Wenn Sie nicht in Medellín leben können, dann könnten Sie ja in Cartagena ... Wenn Sie nicht in Cartagena, dann ... Wenn Sie nicht ...Wenn Sie nicht ...
Begründen Sie ... Begründen Sie ...
Danach wieder Camp-Alltag: Sicherheit vor Gewalt? Fehlanzeige. Ausreichende medizinische Versorgung? Fehlanzeige. Reiseerlaubnis, um mit der Anwältin in München zu sprechen? Fehlanzeige.
Maria Victoria musste 2021 an Körper und Seele erleiden, wie die Bundesrepublik mit internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen umgeht, wenn es um Geflüchtete geht: Ist beispielshalber die Istanbul-Konvention zur Verhütung von Gewalt gegen Frauen am 1.2.2018 hierzulande etwa doch nicht in Kraft getreten? Oder gibt es ganz einfach rechtsfreie Zonen, in denen das Abkommen nicht umgesetzt werden muss? Zum Beispiel, weil das strukturell in einem Camp sowieso nicht möglich ist?(2)
Und wie steht es eigentlich um Maria Victorias Chancen als Kolumbianerin in Deutschland überhaupt Asyl zu bekommen? Mit diesem Thema hatte sich das Ökubüro schon zu Jahresbeginn intensiv auseinandergesetzt.
Die Illusion vom Frieden in Kolumbien
Erbitterte Kämpfe bewaffneter Gruppen um Territorien sowie tödliche Angriffe auf soziale Führungspersönlichkeiten zwingen immer mehr Kolumbianer*innen zur Flucht, auch nach Deutschland. Die Menschenrechtslage verschlechterte sich seit 2018 konstant. Dennoch hoffen die Schutzsuchenden fast immer vergeblich auf Asyl oder zumindest subsidiären Schutz, so unser Fazit im März 2021.
„Wir haben den Eindruck, dass Kolumbianer*innen, die ein Recht auf Schutz haben und ihn dringend brauchen, Gefahr laufen, ihn nicht zu bekommen“, konstatierte Alejandro Pacheco, Kolumbienreferent des Ökubüros. Europaweit werden Kolumbianer*innen, offenbar ähnlich wie Bürger*innen aus Moldau, Nordmazedonien, Albanien oder der Ukraine, wie Menschen aus vermeintlich sicheren Herkunftsländern behandelt, und deren Asylverfahren werden „mit wenig Chancen auf Erfolg“ lediglich als eine „Belastung für die Asylsysteme“ angesehen.(3)
Laut Zahlen des Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) stammen aus Kolumbien nach Venezuela die zweitmeisten lateinamerikanischen Asylanträge in der Bundesrepublik. In den Jahren 2018-2020 wurden beim BAMF insgesamt 951 neue Asylanträge von Kolumbianer*innen gestellt. In nur vier Fällen wurde politisches Asyl zuerkannt, 39 Personen wurde subsidiärer oder anderweitiger Schutz gewährt.
Die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Abgeordneten Heike Hänsel bestätigte Ende März diesen Trend. 2019 entschied das BAMF über 252 Anträge von Kolumbianer*innen: Zwei bekamen politisches Asyl bzw. subsidiären Schutz. 2020 fielen 549 Entscheidungen: Keine einzige zugunsten der Geflüchteten. Das gleiche Bild zeigt sich in der nächsten Instanz. Von insgesamt 44 Entscheidungen von Verwaltungsgerichten fiel 2019 eine einzige zugunsten subsidiären Schutzes für die Kläger*in aus. 2020 entschieden die Gerichte 98 mal – ausschließlich gegen den Schutz der klagenden Geflüchteten.(4)
Begleitende Organisationen stellen bei der Analyse der Ablehnungen, speziell von Menschen, die ernsthaft bedroht und verfolgt sind, zwei – aus unserer Sicht unhaltbare – Gründe fest: Zum einen die (trügerische) Illusion vom Frieden in Kolumbien und zum anderen die Annahme, das kolumbianische Schutzsystem sei für alle verfügbar und effizient und es gebe sichere, inländische Fluchtalternativen. Daten aus Kolumbien und von internationalen Organisationen zeigen ein anderes Bild: So wurden laut der NGO Indepaz seit der Unterzeichnung des Friedensabkommens im November 2016 mehr als tausend Vertreter*innen der Zivilgesellschaft und mehr als 240 indigene Anführer*innen getötet. Und: „Obwohl Kolumbien in der Theorie eines der umfassendsten Schutzsysteme in der gesamten Region hat, ist dieses System unwirksam, da die Behörden sich weigern, präventiv zu handeln, um die strukturellen Ursachen der kollektiven Gewalt gegen Menschenrechtsverteidiger*innen anzugehen“, sagt Erika Guevara-Rosas, Direktorin der Region Américas bei Amnesty International.(5)
Auf die Frage, warum BAMF und Verwaltungsgerichte im Fall Kolumbien die Realität des Landes zwar durchaus zu kennen scheinen(6), aber dennoch weitgehende immun gegen menschenrechtliche Argumente sind, geben interessanterweise die Ablehnungsbescheide selbst Auskunft. Dort wird im Schlussteil mit identischen Textbausteinen per Copy Paste immer wieder auf die guten wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Kolumbien hingewiesen, auf die als positiv eingeschätzte wirtschaftliche Entwicklung des Landes und dessen Ressourcenreichtum.
Begleitung und Prozessbeobachtung
Auch für verfolgte Honduraner*innen ist es nicht leicht, in Deutschland Schutz zu erhalten. 2021 begleiteten wir gemeinsam mit Mitgliedern der Rostocker Gruppe unseres Netzwerks HondurasDelegation Darwin Sánchez und Tatiana Hernández, zwei Führungspersonen der Studierendenbewegung aus Choluteca, bei ihrem Versuch, vor dem Verwaltungsgericht in Greifswald ihr Recht auf Asyl durchzusetzen und unterstützten eine Pressekonferenz der beiden.
2022 gilt es weiter zu begleiten und einzelnen Personen zur Seite zu stehen. Das ist inzwischen ein bedeutender, zeitaufwändiger, schöner und kräftezehrender Teil unserer hauptamtlichen Arbeit im Ökubüro. Wir müssen aber auch, gemeinsam mit anderen, drastische Veränderungen einfordern. Unsere Solidarität mit Geflüchteten und Menschen mit Migrationserfahrung muss sich in Zukunft stärker denn je auch in Advocacy-Arbeit und Aktionen zeigen.
(1) https://www.swissinfo.ch/spa/colombia-violencia_denuncian-que-35-mujeres-transg%C3%A9nero-han-sido-asesinadas-en-colombia-en-2021/47206986
(2) Vgl. „Zur Umsetzung der Istanbul-Konvention in Bezug auf geflüchtete Frauen und Mädchen in Deutschland“ https://www.proasyl.de/wp-content/uploads/220111_BHP_PA_Parallel_Grevio_deutsch.pdf
(3) https://www.oeku-buero.de/nachricht-508/deutschland-und-die-illusion-vom-frieden-in-kolumbien.html
(4) Drucksache 19/27803 - Deutscher Bundestag https://dserver.bundestag.de/btd/19/278/1927803.pdf Vgl. auch: https://www.proasyl.de/news/trotz-lebensgefahr-kein-asyl-fuer-gefluechtete-aus-kolumbien/
(5) Weitere Daten und alle zugehörigen Nachweise und Quellen wie oben unter: https://www.oeku-buero.de/nachricht-508/deutschland-und-die-illusion-vom-frieden-in-kolumbien.html
(6) Siehe z.B. Entscheiderbrief 10-2021 https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/Entscheiderbrief/2021/entscheiderbrief-10-2021.html?nn=283288