Solidaritätsreise
Wie alle zwei Jahre fand im August 2017 wieder eine vierwöchige Solidaritätsreise nach Mittelamerika statt. Diese erfolgte auch in diesem Jahr in Kooperation mit dem Informationsbüro Nicaragua aus Wuppertal. Während in den vergangenen Jahren allein Nicaragua auf dem Programm gestanden hatte, reiste dieses Jahr die sechsköpfige Gruppe auch zehn Tage nach El Salvador. War bisher meist ein konkretes Bauprojekt realisiert worden, so standen 2017 Bildungsfragen und Fragen zur Lebenssituation der Bevölkerung im Vordergrund.
Die Reisegruppe traf sich am 1. August im Hostal Dulce Sueños in Managua. In der Hauptstadt wollten wir zunächst ein genaueres Bild über den Stand des geplanten Nicaraguakanals sowie dessen zu erwartende Auswirkungen auf Menschen und Umwelt gewinnen. Dazu trafen wir uns mit der Anwältin und Aktivistin Mónica López der Organisation PopolNa sowie mit Vertreter*innen des Consejo Nacional en Defensa de Nuestra Tierra, Lago y Soberanía (Nationaler Rat zur Verteidigung unseres Landes, des Sees und der Souveränität).
Die Gefahren des geplanten Nicaraguakanals
Diese informierten uns, dass es derzeit zweifelhaft sei, ob der Nicaraguakanal überhaupt gebaut würde. Dennoch bedrohe die für den Kanal erteilte Konzession (festgeschrieben im Gesetz 840) das Leben der Menschen in der Region sowie die Souveränität des Landes. Denn auch wenn das Unternehmen HKND das Projekt nicht umsetzt, können weiterhin Häfen und Straßen gebaut oder Tourismusprojekte realisiert werden. Besonders gefährlich sei, dass im Gesetz 840 die Landenteignung für solche Projekte ungemein erleichtert worden ist; dies versetzt die Menschen permanent in Sorge, im Interesse (ausländischer) Investoren vertrieben zu werden.
Beim Besuch von San Carlos im Süden des Landes trafen wir Saúl Obregón von unserer Partnerorganisation Fundación del Rio. Mit ihm sprachen wir über die absehbaren sozialen und ökologischen Folgen für die Region, sollte der Kanal tatsächlich gebaut werden. Auf der Insel Maraconcito (Nachbarinsel von Solentiname) konnten wir das Leben der Menschen dort kennenlernen. Sie bestreiten ihren Lebensunterhalt meist durch Subsistenzwirtschaft an den steilen Berghängen der Insel und durch Fischerei. Kleine Extraeinnahmen werden durch das Anfertigen von kunsthandwerklichen Gegenständen in Familienarbeit erwirtschaftet. Die abgelegene Lage auf der kleinen Insel gestaltet die Vermarktung dieser Produkte mitunter jedoch etwas schwierig.
Besuch bei MCN-Radio
Danach ging es weiter zu unserer Partnerorganisation, dem Movimiento Comunal Nicaragüense (MCN) nach Matagalpa. Von dort fuhren wir zunächst für drei Tage nach Molino-Sur, wo die Gruppe der Solidaritätsreise vor zwei Jahren am Bau einer kommunalen Radiostation mitgewirkt hatte. Wir sahen, dass das MCN-Radio mittlerweile eine rege Dynamik entfaltet hat. Ein fester Stamm von ehrenamtlichen, Aktiven sorgt dafür, dass jeweils morgens von 7 bis 9 Uhr und nachmittags von 13 bis 19 Uhr die Bewohner*innen von Molino-Sur und den umliegenden Gemeinden Musik, Nachrichten und Beiträge zu Klima und Umweltschutz, Menschenrechten, Gendergerechtigkeit etc. hören können. Am Sonntag werden religiöse Programme gesendet, aber auch die Spiele des ortsansässigen Baseballteams live übertragen.
Die lokalen Koordinatoren Ciriaco Ortíz und Jeny Velázques betonten die Bedeutung des Radios auch für die Organisation in und zwischen den Gemeinden untereinander. So können sich die Menschen durch Anrufe im Studio oder auch durch das Gestalten eigener Sendungen in den Betrieb des Radios einbringen. Zum Zeitpunkt unseres Aufenthaltes stand der Besuch des Bürgermeisters (der seinen Sitz in Sebaco, der nächsten kleinen Stadt hat) auf dem Programm. Über das Radio wurde dazu aufgerufen, sich auf dem zentralen Dorfplatz einzufinden, um ihm möglichst eindrucksvoll die Forderungen der Gemeinde zu übergeben. Dabei ging es aktuell vor allem um die Reparatur einer Hängebrücke sowie um die seit Jahren sehnlich erwartete Asphaltierung der Zugangsstraße, die sich bei starken Regenfällen immer in eine schwer befahrbare Schlammpiste verwandelt.
Anpassung an die Folgen des Klimawandels
Bei unserer nächsten Station in Esquipulas beschäftigten wir uns eine Woche intensiv mit den verschiedensten Aspekten des Klimawandels. In Seminaren sowie bei Besuchen verschiedener kleinerer Gemeinden lernten wir eine Menge darüber, wie die lokalen Bauern versuchen, sich an dieses vom Menschen verursachte Problem anzupassen. So arbeitet das MCN zum einen daran, aufgrund genauer Beobachtung des Klimas möglichst verlässliche Prognosen darüber zu erarbeiten, ob eher eine trockene bzw. feuchte Periode zu erwarten ist. Auf dieser Basis können die Kleinbauern dann solche Frucht- und Gemüsesorten anpflanzen, die am besten unter den zu erwartenden Bedingungen gedeihen können.
Zum andern wird daran gearbeitet, auf den Anbau von Monokulturen zu verzichten. Stattdessen wird durch das geschickte Kombinieren verschiedener Pflanzen versucht, die Böden im Gleichgewicht zu halten, so dass chemischer Dünger oder Pestizide überflüssig werden. Auch das Pflanzen von Bäumen und anderer schattenspendenden Pflanzen trägt zur natürlichen Erhaltung der Böden bei. Das Ziel bei diesem Agrarmodell, das sich an den Anbaumethoden der indigenen Vorfahren orientiert, ist das Erreichen von Nahrungsmittelsouveränität. Daher bauen die Kleinbäuer*innen zuerst eine Vielfalt von Mais, Bohnen, Obst und Gemüse an, um von den Preisschwankungen bei Exportprodukten wie zum Beispiel Kaffee unabhängig zu sein. Zum anderen ist die Ernährung der Bauer*innen weiterhin gewährleistet, auch wenn - wie im Jahr 2015 - aufgrund von Trockenheit fast kein Mais geerntet werden kann. Die Familien können diesen dann durch andere selbst angebaute Produkte ersetzen. Ein weiterer positiver Aspekt dieser Anbaumethoden ist, dass die kleinbäuerliche Landwirtschaft und der Umweltschutz keinen Gegensatz darstellen, weil es die Bauer*innen selbst sind, die im Rahmen der eigenen Landwirtschaft Wiederaufforstung betreiben.
Menschenrechtszentrum kritisiert Machtfülle des Präsidenten
Nach diesen spannenden Erfahrungen machten wir uns auf den Weg zurück in die Hauptstadt Managua. Dort führten wir ein Gespräch mit Vilma Nuñez vom Menschenrechtszentrum CENIDH. Thema war zum einen die besorgniserregend zunehmende Machtkonzentration beim Präsidenten Daniel Ortega; dieser sei laut Nuñez auf dem besten Weg, eine Art Familiendynastie zu errichten. Zum anderen ging es um die Landkonflikte zwischen Siedlern und indigenen Gruppen in der nordöstlichen Region an der Pazifikküste, sowie um mysteriöse Todesfälle im Norden des Landes im Zusammenhang mit kriminellen Gruppen.
El Salvador: Besuch in Bajo Lempa
Anschließend machte sich die Gruppe mit dem Bus auf den Weg nach El Salvador. Nach einem Tag in der Hauptstadt San Salvador war unsere nächste Station der Besuch von ACUDESBAL in der Region Bajo Lempa. Auch dort wohnten wir bei Gastfamilien. Wie Mario (José Santos Guevara Maradiaga, Direktor von ACUDESBAL) erklärte, kümmert sich seine Organisation um die Belange der Gemeinden in der Region. Deren Geschichte begann Anfang der 90er Jahre, als ehemalige
Kämpfer*innen der FMLN im Rahmen der Friedensverträge Land zum Aufbau von Gemeinden zugeteilt bekamen. Ein Wandbild in den Büros der Organisation beschreibt die junge Geschichte der Gemeinden: Den Schulunterricht, der zunächst noch im Freien stattfinden musste, die Überschwemmungen nach dem Hurrikan Mitch im Jahre 1998, die Fortschritte, die bis heute erreicht wurden und die damit verbundene Lebensfreude.
Ein Ausflug in die Bucht von Jiquilisco verdeutlichte exemplarisch die Widersprüche, die heute die Realität von El Salvador ausmachen: Die Bewohner*innen berichteten, dass die Gegend bis vor kurzem noch in der Hand von zwei rivalisierenden Gangs, der MS13 sowie der Barrio18, waren. Bajo Lempa war jedoch ein Schwerpunkt der sogenannten „Außergewöhnlichen Maßnahmen“ der Regierung, mit denen die Jugendbanden und ihre Kollaborateure mit fragwürdigen
Mitteln eliminiert wurden. Seither ist Ruhe in die Region eingekehrt.
Die Landaufteilung in Bajo Lempa ist schwierig. Die Kleinbäuer*innen leben in einer Reihe von Dörfern. Mit ihnen setzt ACUDESBAL strategisch auf das Erreichen von Nahrungsmittelsouveränität. Das bedeutet, die Bäuer*innen produzieren, ähnlich wie wir es in Nicaragua gesehen haben, vornehmlich für den Eigenbedarf. Auch hier wird versucht, den Einsatz von Pestiziden und chemischen Düngemitteln zu minimieren. Das Land der Kleinbauer*innen wird jedoch immer wieder durch Ländereien durchschnitten, auf denen Investoren und Großgrundbesitzer in Monokultur Zuckerrohr anbauen. Diese laugt die Böden aus und beeinträchtigt die Gesundheit der ansässigen Bevölkerung. Eine kürzlich erstellte Studie hat festgestellt, dass 11% der dort lebenden Menschen aufgrund der eingesetzten Pflanzengifte an Niereninsuffizienz leiden. Daneben befinden sich auf kilometerweit ausgedehnten Flächen die Viehweiden eines Großgrundbesitzers. Dieser hat auch eine Landebahn für Kleinflugzeuge angelegt. Es wird vermutet, dass die nachts startenden und landenden Maschinen für den Schmuggel von Drogen verwendet werden. Verstreut auf den ausgedehnten Flächen befinden sich die Baracken von Menschen, die selbst kein Land (mehr) haben. Sie sind darauf angewiesen, für wenig Geld die Kühe des Großgrundbesitzers zu versorgen oder auf den Zuckerrohrplantagen zu arbeiten. Aber vielleicht gibt es ja bald mehr (meist auch schlecht bezahlte) Arbeit im Tourismussektor. Es wurden bereits Konzessionen vergeben, um die malerischen Strände mit Hotels zuzubauen. Der Bevölkerung wird dann nur noch ein kleiner Abschnitt übrig bleiben, um ans Meer zu gelangen.
Die ungleiche Landverteilung ist ein überkommenes Problem aus der Vergangenheit. Die Verdrängung der Bevölkerung durch den Anbau von Monokulturen wie Zuckerrohr, durch Investitionen im Bereich des Tourismus oder in anderen Großprojekten hat sich in den letzten Jahren verschärft und betrifft nicht nur El Salvador, sondern ganz Zentralamerika.
Seminar zu Auswirkungen von Freihandel und Investitionen
Diese Entwicklung war der Hintergrund für ein Internationales Seminar über Menschenrechte und Multinationale Investitionen, das von Organisationen aus El Salvador organisiert und vom Öku-Büro unterstützt wurde. Daran nahmen rund 50 Teilnehmer*innen unterschiedlicher Basisorganisationen aus ganz Zentralamerika teil. Ziel war, einen systematischen Überblick über die Auswirkungen der Freihandelsverträge auf die Menschen der Region zu erarbeiten sowie mögliche Alternativen zum kapitalistischen Wachstumsparadigma zu diskutieren. Auf dem Seminar konnten wir vielfältige Informationen und Eindrücke gewinnen. Sie waren Basis für Reflexionen und Diskussionen, die auch in die zukünftige Arbeit des Öku-Büros einfließen werden.
Jugendgewalt und die Repression der Sicherheitskräfte gegen Jugendgangs
Letzte Station der Reise war noch einmal die Hauptstadt San Salvador. Im Stadtteil Mexicanos trafen wir uns mit Padre Carlos San Martín vom Servicio Social Pasionista (SSPAS – Sozialer Passionsdienst). Dort hatten wir die Möglichkeit, über das Thema der Gewalt im Zusammenhang mit den kriminellen Jugendbanden zu sprechen. SSPAS kritisiert den sehr repressiven und gewalttätigen Ansatz der aktuellen Regierung, der immer wieder zu schweren Menschenrechtsverletzungen führt. Es gibt „außergerichtliche Hinrichtungen“ und auch Jugendliche, die nicht zu den Gangs gehören, leiden unter der Gewalt und den Schikanen der Ordnungskräfte.
Fazit
Die Solidaritätsreise 2017 hat den Teilnehmenden die Möglichkeit gegeben, Nicaragua und El Salvador aus einer aktuellen, politischen, sozialen und kulturellen Perspektive kennenzulernen. Im Anschluss an die Reise sind einige themenspezifische Texte und Videos in Arbeit, die seit Ende 2017 nach und nach veröffentlicht werden.