Agrarpolitische Reise nach Kuba und Nicaragua
Im Dezember 2014 begab sich eine zwölfköpfige Delegation aus Aktiven der Solidaritätsbewegung, Gewerkschafter_innen und Wissenschaftler_innen auf eine Reise nach Nicaragua und Kuba. Ziel der Reise war eine „solidarische Untersuchung“ zu Politik und Realität der Landwirtschaft in den beiden Ländern. Im Mittelpunkt des Interesses der Gruppe stand die Frage nach der Bedeutung der heute weit verbreiteten Forderung nach Ernährungssouveränität für die beiden Länder. Ein weiterer Fokus war die Entwicklung der landwirtschaftlichen Kooperativen in den beiden Ländern.
In jeweils zweiwöchigen Rundreisen in Nicaragua und Kuba besuchte die Gruppe zahlreiche landwirtschaftliche Betriebe. In Managua und Havanna organisierte sie Symposien, auf denen sie sich mit Wissenschaftler_innen und Vertreter_innen von NGOs über aktuelle landwirtschaftliche Fragen austauschte. Derzeit befinden sich ein Buch und ein Dokumentarfilm über die Ergebnisse der Recherche in Vorbereitung. Hier sollen erste Eindrücke der Reise, an der ein Mitarbeiter des Ökumenischen Büros teilnahm, zusammen gefasst werden.
Kuba: Bestrebungen nach Ernährungssouveränität als Ergebnis besonderer wirtschaftlicher Bedingungen
Bereits seit der Kolonialzeit war die Produktion von Zuckerrohr, Zucker und Rum der alles bestimmende Faktor in der kubanischen Wirtschaft. Daran änderte sich bis zum Zusammenbruchs des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe der sozialistischen Staaten wenig: Kuba exportierte vor allem Zucker in die Staaten des Ostblocks und importierte dafür nahezu alles andere. Nachdem 1990 fast alle Handelskontakte wegbrachen und das US-Embargo den Aufbau neuer Beziehungen massiv erschwerte, erhielt die Eigenproduktion von Lebensmitteln existenzielle Bedeutung. Die Ausprägung der heutigen Landwirtschaftspolitik in Kuba erklärt sich nach wie vor aus dieser Situation.
Um Devisen zu sparen, versucht die kubanische Regierung alle Möglichkeiten zu nutzen, um die Produktion anzuregen. Eine weit verbreitete Polemik in Kuba lautet: „Wenn der Staatsbetrieb aus einem Hektar eine halbe Tonne Produkt herausholt, schafft die Kooperative eine Tonne und der Privatbetrieb zwei.“ Angestrebt wird daher die Auflösung ineffizienter staatlicher Großbetriebe zugunsten der Gründung von Kooperativen. Ziel ist die Verkleinerung der Betriebe und die Verlagerung von Verantwortung in die Hände der Produzierenden, eine Öffnung der Vermarktung hin zu Bauernmärkten und dezentraler, lokaler Versorgung. Brachliegendes Land wird seit 1993 an sogenannte „Neubauern“ zur Nutzung überlassen, unter der Bedingung, dass das Land produktiv bewirtschaftet wird. Bereits 200.000 Familien haben von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Dennoch liegen immer noch 50% der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche brach und ein großer Teil der Lebensmittel muss weiterhin importiert werden. Armando Nova, Dekan der Ökonomischen Fakultät der Universität von Havanna, sieht hier noch große Herausforderungen für die Politik, die weiter Anreize für die landwirtschaftliche Produktion bieten müsse. Der Forderung nach Ernährungssouveränität, also völliger Selbstversorgung der Inselbevölkerung mit Nahrungsmitteln, erteilt er aber eine Absage: „Zum Beispiel bei Reis decken wir derzeit 30% des Eigenbedarfs, mit weiteren Anstrengungen können wir 50% erreichen, aber eine völlige Selbstversorgung ist aufgrund unserer geographischen Bedingungen nicht möglich. Ebenfalls muss Weizen importiert werden, er wächst bei uns einfach nicht.“
Wie überall auf der Welt besteht eine zentrale Schwierigkeit darin, Stadtbewohner_innen davon zu überzeugen, aufs Land zu ziehen. Auch wenn in Kuba das Stadt-Land-Gefälle in puncto Einkommen und soziale Infrastruktur zugunsten des ländlichen Raumes ausfällt – aufs Land zu ziehen bedeutet für die meisten Stadtbewohner_innen auch in Kuba eine Abkoppelung von der Moderne, von den Möglichkeiten und einer Zukunft, die in Kuba derzeit völlig offen ist. Das Centro Martin Luther King (CMLK), eine christliche, sozialistische Organisation, (die auch mit dem Movimiento Comunal in Nicaragua zusammen arbeitet), sieht die Herausforderung in der Begleitung der Bauernfamilien beim Aufbau der Produktion. In Zusammenarbeit mit dem staatlichen Landwirtschaftsinstitut werden Anbautechniken im Wege der educacion popular weiter gegeben, einer Bildungsmethode auf Augenhöhe. Die Publikation Caminos des CMLK fungiert gleichzeitig als ein internationales Forum zum Austausch über an die Notwendigkeiten angepasste Wirtschaftspolitik.
Eine weitere kubanische Besonderheit ist die urbane ökologische Landwirtschaft. Ursprünglich war dies eine Maßnahme zur Überlebenssicherung in der „Spezialperiode“ der 90er Jahre, die hierzulande in ähnlicher Form aus der Nachkriegszeit bekannt ist. Heute sind die nach wie vor weit verbreiteten Organoponicos (Stadtgärten) ein Bezugspunkt für die Urban Gardening-Bewegung weltweit, die in dem gemeinsamen Anbau ökologisch unbedenklicher und gesunder Nahrungsmittel einen ökonomischen und sozialen Gewinn sehen.
Wie sich die kubanische Landwirtschaft und die Gesellschaft im Ganzen entwickeln werden, wenn sich die USA Kuba gegenüber weiter öffnen, war zum Zeitpunkt der Reise noch nicht abzusehen. Während bei der jungen Bevölkerung die Hoffnung auf ein materiell abgesichertes Leben mit allen technischen Möglichkeiten vorzuherrschen scheint, mischen sich bei den Erwachsenen Zweifel an der Euphorie: „Der Teufel verteilt keine Süßigkeiten. Und wenn er es doch tut, dann sind sie vergiftet.“, so Manuel Caldera, Arzt aus Cienfuegos.
Nicaragua: Kleine und große Landwirtschaft im Aufschwung
Die drei wichtigsten sozialen Kämpfe, die derzeit in Nicaragua stattfinden, stehen im direkten Zusammenhang mit der Landwirtschaft: Im Süden des Landes wehren sich Bauernfamilien dagegen, ihr Land für den Bau des Interozeanischen Kanals zu ungünstigen Preisen zu verkaufen (siehe Länderbericht Nicaragua). Ihre zahlreichen Protestdemonstrationen sind starker Polizeirepression ausgesetzt und es sind bereits Tote zu beklagen.
Auf den Zuckerrohrfeldern im Nordwesten des Landes streiten ehemalige Arbeiter, die aufgrund des Pestizideinsatzes an Chronischer Niereninsuffizienz (IRC) erkrankt sind, um Entschädigungszahlungen durch das Unternehmen Pellas. Die Pellas-Gruppe ist Nicaraguas mächtigster Konzern und steht in engem Kontakt zur Regierung Ortega. Die Organisation der Nieren-Erkrankten ANAIRC ist daher dringend auf internationale Unterstützung angewiesen. Aus nicaraguanischem Zuckerrohr erzeugtes Ethanol landet als Agrosprit-Beimischung auf dem europäischen Treibstoffmarkt.
Die dritte Auseinandersetzung betrifft eine im Aufbau befindliche Goldmine in Rancho Grande im Norden der Provinz Matagalpa. Auch hier sind die flussabwärts siedelnden Bauernfamilien die Leidtragenden und Protagonist_innen der Widerstandsbewegung: Die Erfahrung aus anderen Goldminen beweist, dass Flüsse und Grundwasser durch die im Abbau verwendeten Chemikalien Quecksilber und Cyanid verseucht werden. Beim Besuch in der Region traf die Gruppe auf alte Bekannte des Öku-Büros: Das Movimiento Comunal de Matagalpa engagiert sich in der Koordination der Proteste, sehr zulasten des Verhältnisses mit der lokalen Regierung, die auf Weisung der nationalen Regierung die Minenbetreiberfirma B2Gold verteidigt.
Aufs Ganze gesehen ist die Landwirtschaft Nicaraguas im Aufwind. War das Land vor dem Amtsantritt der Regierung Ortega noch von Importen von Grundnahrungsmitteln abhängig, so werden heute Bohnen nach ganz Zentralamerika exportiert und Rindfleisch im Rahmen des ALBA-Vertrages im Gegenzug für Erdölimporte an Venezuela geliefert. Die staatlichen Programme Hambre Cero, Usura Cero und Patio Saludable haben die kleinbäuerliche Landwirtschaft und den ländlichen Raum allgemein gestärkt. Obwohl allerorts die Korruption und der Klientelismus in den Maßnahmen der Ortega-Regierung beklagt werden, müssen die wirtschaftlichen Erfolge anerkannt werden. Im Gegensatz zu der economia mixta der 80er Jahre, wo die Landwirtschaft zu jeweils einem Drittel in Staatsbetrieben, Kooperativen und Privatbetrieben produzierte, richtet sich die staatliche Förderung derzeit fast nur noch an private Betriebe. Nachdem die Staatsbetriebe und auch viele Kooperativen nach 1990 aufgelöst wurden, existieren heute nur noch wenige landwirtschaftliche Kooperativen in Nicaragua. Darunter befinden sich einige beispielhafte Projekte, so die in den 80er Jahren vom Informationsbüro Nicaragua unterstützte Kaffeekooperative im Pantasma-Tal in der Provinz Jinotega. Die Kooperative befand sich in den späten 80er Jahren mitten in der Front des Contra-Krieges und hat später heimkehrende Ex-Contra-Soldaten als Kooperativisten integriert. Hier und in der Fairhandels-Kaffee-Kooperative SOOPEXCCA in Jinotega-Stadt können landwirtschaftliche Kooperativen auf eine lange und erfolgreiche Geschichte zurückblicken, in der die Vorteile dieser Produktionsform zum Tragen kommen: Gegenseitige Unterstützung, bessere Preise durch größeres Produktionsvolumen, Wertschöpfung durch Weiterverarbeitung, Direktvermarktung, Umsetzung von Gewinnen in soziale Projekte.
Ernährungssouveränität wird in Nicaragua groß geschrieben. Seit 2009 gibt es sogar ein Gesetz zur Ernährungssicherheit und Ernährungssouveränität. In diesem Zuge werden von Regierungsseite kleinbäuerliche Landwirtschaft und lokale Produktion gestärkt, das staatliche Ankauf- und Vertriebssystem für Grundnahrungsmittel ENABAS wurde reaktiviert. Im Bereich der NGOs und sozialen Bewegungen findet sich eine Fülle an richtungsweisenden Landwirtschaftsprojekten.
Gleich ob Kooperative, Kleinbauern und Kleinbäuerinnen mit Unterstützung einer der zahlreichen NGOs, Bauernfamilien mit Unterstützung der Regierung oder neureicher Großagrarproduzent_innen: Nicaraguas Landwirtschaft befindet sich in einem Aufschwung, der viele Gesichter und viele Ursachen hat.Charakteristisch für das heutige Nicaragua ist, dass ganz undogmatisch die verschiedensten Möglichkeiten genutzt werden.