Kriminalisierung sozialer Proteste
Innerhalb unserer Mexikoarbeit beschäftigen wir uns mit dem Thema der Kriminalisierung sozialer Proteste seit langem. 2009 initiierten wir diesbezüglich die Kampagne „Protestar es un Derecho, reprimir es un delito!“. Auch wenn damals die Finanzierung für diese Kampagne auf ein Jahr begrenzt war, blieb diese Thematik Schwerpunkt unserer Arbeit.
Unter Kriminalisierung werden unterschiedliche Sachverhalte verstanden. Zum Einen bezeichnet Kriminalisierung Gesetzesänderungen, die zur Strafbarkeit von Handlungen führen, die vorher keine waren. Beispielsweise wurde nach dem Überfall der Polizei auf San Salvador Atenco 2006, die Gefängnisverordnung geändert, um die von den Behörden als „Anführer“ bezeichneten Personen in Hochsicherheitshaftanstalten zu inhaftieren.
Des Weiteren wird unter Kriminalisierung auch die einseitige Strafverfolgung bei politisch motivierten Straftaten verstanden. Ein deutliches Beispiel dafür liefert die Freilassung von Mitgliedern der paramilitärischen Gruppe „Paz y Justicia“, die das Massaker von Acteal am 22. Dezember 1997 verübten, während der Mitglieder der Organisation „Las Abejas“ nicht nur zusehen müssen, wie ihre Peiniger freigelassen werden, sondern auch den ständigen Schikanierungen der Justiz ausgesetzt sind.
Die jedoch am weitesten verbreitete Form der Kriminalisierung sind die Versuche der Behörden, Vereinigungen und / oder Aktivitäten als kriminell zu bezeichnen, auch wenn sich das später juristisch nicht halten lässt. Beispielsweise werden in Mexiko Menschenrechtsorganisationen und NGOs oft wegen angeblich irregulärer Geldverwendung diffamiert und belangt. Die Konsequenz daraus ist, dass die Organisationen einen nicht unerheblichen Teil ihres Haushalts für kostenaufwändige Buchprüfungen verwenden müssen. Eine große Rolle bei dieser Art der Kriminalisierung spielen die Medien, die solche Anschuldigungen häufig unreflektiert und mit reißerischen Stories aufgreifen. In Oaxaca (Mexiko) wurden zum Beispiel Anfang 2009 eine Reihe von Artikeln in einer regierungsfreundlichen Zeitung veröffentlicht, laut denen MitarbeiterInnen von NGOs und Menschenrechtsorganisationen Swimmingpoole auf ihren Anwesen gebaut hätten. Woraufhin eine Mitarbeiterin einer unserer Partnerorganisationen scherzte, „wenn eine Regenwassertone eine Swimmingpool ist, ist dann die Betonplatte hinter meinem Haus ein Hubschrauberlandeplatz?“ Wenn die Medien diffamierende Aussagen von PolitikerInnen gegen Organisationen oder Protestierende weitergeben, werden diese oft für bare Münze genommen. Diese „Wahrheiten“ werden dann von Behörden gegen die Organisationen verwendet, um so Bürodurchsuchungen oder Festnahmen von MitarbeiterInnen zu rechtfertigen.
Ziel der Kriminalisierung sozialer Proteste und Menschenrechtsarbeit ist es, die Repression gegen sie zu rechtfertigen und Proteste und Widerstand zu diskreditieren. Darüber hinaus werden die AktivistInnen durch die Überziehung mit Verfahren an ihrer eigentlichen politischen Arbeit gehindert, da sie sich gegen die Beschuldigungen wehren müssen. Hinzu kommt, dass Gerichtsverfahren mit Kosten, bspw. für einen Rechtsbeistand, verbunden sind.
Das Beispiel Atenco
Der wahrscheinlich markanteste Fall für eine umfangreiche Kriminalisierung von sozialem Protest ist der Fall von San Salvador Atenco. Warum gerade in Atenco dieses Exempel statuiert wurde erklärt ein Blick auf das Volksbündnis zur Verteidigung des Landes (FPDT). Die FPDT gehört zu den Unterzeichnern der von den ZapatistInnen initiierten »Anderen Kampagne« und wurde 2001 / 2002 weit über die Grenzen von San Salvador Atenco hinaus bekannt. Damals war ihr Widerstand maßgeblich dafür verantwortlich, dass die Regierung das Projekt eines neuen internationalen Großflughafens für Mexiko-Stadt aufgeben musste. Diesem Vorhaben wäre viel Land der BewohnerInnen von Atenco und weiterer bäuerlicher Anliegergemeinden zum Opfer gefallen. Auf der anderen Seite zerplatzten die Träume zahlreicher Immobilienspekulanten, auch in Regierungskreisen. Die FPDT ist seit dem immer wieder bei anderen sozialen Konflikten präsent gewesen und als radikale Opposition den Herrschenden ein Dorn im Auge geblieben. Der Konflikt um acht geräumte Verkaufsstellen von BlumenhändlerInnen auf dem Marktplatz in Texcoco erscheint im Nachhinein als der ersehnte Vorwand, das geplante Exempel zu statuieren.
Wegen Kriminalisierung und Verfolgung musste sich América de Valle mehr als vier Jahre verstecken
Zeitpunkt, Massenverhaftungen, allgemeine Vorgehensweise und das Übermaß an Gewalt, einschließlich der Demütigungen, stehen bei solchen Operationen in einem engen Zusammenhang. Sie sind nicht zufällig und improvisiert, sondern frühzeitig geplant und normalerweise zwischen verschiedenen Sicherheitskräften koordiniert (in Atenco handelte es sich um eine gemeinsame Aktion der Präventiven Bundespolizei und von Polizeieinheiten des Bundesstaates Mexiko).
Die brutale und auf Demütigung abzielende Gewalt ist in der Logik der staatlichen Aggressoren ein notwendiger Faktor zur Einschüchterung des sozialen Widerstands. Nicht umsonst gab es von offizieller Seite wütende Reaktionen und Verleumdungen gegenüber dem international bekannten mexikanischen Menschenrechtszentrum Miguel Agustín Pro Juárez. Das Zentrum präsentierte ein Video mit drei an dem Atenco-Einsatz beteiligten, nicht erkennbaren Polizisten, die eindeutig aussagen, von ihren Vorgesetzten zu einem Höchstmaß an Brutalität aufgefordert worden zu sein.
Vielen von uns sind noch die Fernsehbilder in Erinnerung, als ein Journalist von TV-Azteca vor den Sondereinheiten der Polizei läuft, um live „von der Front“ diese Angriffe zu feiern. (Siehe auch Seite XX)
Die möglichen Folgen von Kriminalisierung
In Nicaragua zeigt die Strategie der Kriminalisierung sozialer Proteste bereits ihre Wirkung: Unter der seit 2007 amtierenden Regierung Ortega wurden kritische NGO´s und Medien angeklagt und mit langwierigen Prozessen z. B. wegen angeblicher Geldwäsche überzogen, die ergebnislos endeten. Der Erfolg bestand darin, die exponiertesten KritikerInnen der Regierung in die Defensive zu drängen und beschäftigt zu halten. Das Ökumenische Büro unterstützte die kriminalisierten NGOs seinerzeit mit einer bezahlten Zeitungsanzeige, in der die deutsche Solidaritätsbewegung ihren Protest gegen die Regierung Ortega ausdrückte.
Flankiert wurde diese Strategie mit gewalttätigen Angriffen auf Demonstrationen der Opposition, medialen Hetzkampagnen gegen die „Agenten der CIA“ sowie der persönlichen Bedrohung prominenter KritikerInnen der Regierung wie der Sprecherin des Menschenrechtszentrums CENIDH, Vilma Nuñez.
Im Ausland für ihre Arbeit anerkannt, in Nicaragua verfolgt. Vilma Nuñez und ihre Organisation CENIDH haben die Friminalisierung ihrer Arbeit zu spüren bekommen
In der Folge ist es stiller geworden in Nicaragua. Die kritischen Stimmen werden leiser, die von der FSLN unabhängigen Demonstrationen seltener. In dem Land, das unter den neoliberalen Regierungen für seine breite und bunte Protestkultur bekannt war, herrscht heute ein Klima der Angst und der Selbstbeschränkung.
Repression und Kriminalisierung auch in der BRD
Der repressive Umgang mit sozialen Bewegungen beschränkt sich jedoch nicht auf die Länder der sog. Dritten Welt, auch hier in Europa und in Deutschland findet eine permanente Kriminalisierung sozialer Proteste statt.
2010 wurde bspw. in Bayern das Versammlungsrecht geändert, was es den Behörden erleichtert, Demonstrationen, Versammlungen und Kundgebungen als rechtswidrig einzustufen und die TeilnehmerInnen dadurch einer repressiven Behandlung unterziehen zu können. Und auch die hiesigen Medien spielen im Krminalisierungsspiel eifrig mit, z. B. titelte eine Tageszeitung des Hauses Springer während der Gegenaktivitäten zum G 8 Gipfel in Heiligendamm am 3. Juni 2010: „Wollt ihr Tote, ihr Chaoten?“.
AktivistInnen werden auch hierzulande mit Verfahren überzogen. Ein eklatantes Beispiel war der Prozess gegen einen Münchner Aktivisten im Sommer diesen Jahres, der wegen seiner Beteiligung an zahlreichen Protesten gegen Militarismus, Neonazismus, Faschismus und Rassismus angeklagt war. Dieser endete am 22. September 2010 mit einer Verurteilung zu einer Geldstrafe von 80 Tagessätzen. Die Vorwürfe waren: „Gefährliche Körperverletzung" mit einem Plastikstuhl an einem Mittenwalder Nazi während der Proteste gegen das Pfingsttreffen der Gebirgsjäger in Mittenwald, bei dem auch verurteilte NS-Verbrecher teilnehmen; „Körperverletzung" am Organisator der sogenannten Münchner Sicherheitskonferenz Wolfgang Ischinger, sowie „Versammlungsstörung" bei einem Podiums-Auftritt Ischingers im Münchner „EineWeltHaus"; „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte" beim Protest gegen das öffentliche Rekrutengelöbnis der Bundeswehr auf dem Münchner Marienplatz; „Beamtenbeleidigung" gegen zwei Münchner Polizisten, die während der Anti-Lager-Aktionstage des Netzwerks "Deutschland Lagerland" einen Flüchtling aufgrund des rassistischen "Residenzpflicht"-Landkreisbeschränkungs-Gesetzes festgenommen hatten. Von diesem Repressions-Paket, das die Staatsanwaltschaft und die Polizei geschnürt hatten, um einen Aktivisten der Münchner Linken exemplarisch für sein politisches Engagement abzustrafen, blieb nicht viel übrig: Verurteilt wurde er lediglich wegen angeblicher „Körperverletzung" an dem Mittenwalder Nazi und NPD-Mitglied Konrad Herzlieb – obwohl dieser sich in seinen eigenen Aussagen extrem widersprochen hatte und mehrere ZeugInnen die falschen Beschuldigungen Herzliebs widerlegt hatten. Die Intention seitens der Justiz war deutlich: Nach all dem Ermittlungsaufwand musste zumindest ein bisschen was von den Vorwürfen hängen bleiben, denn ein Freispruch oder eine Einstellung in allen Anklagepunkten wäre für die Repressionsorgane eine peinliche Niederlage gewesen.
All' diejenigen, die mit unsere Arbeit vertraut sind wissen, wie oft wir Eilaktionen wegen Menschenrechtsverletzungen in unseren Schwerpunktländern initiieren. Dieses mal haben wir auch eine Eilaktion gestartet, aber in umgekehrter Richtung. Binnen drei Tagen haben mehr als hundert Einzelpersonen sowie 30 unserer Partnerorganisationen in Zentralamerika und Mexiko den Protestbrief unterschrieben und durch den Anwalt des Angeklagten an die Staatsanwaltschaft übergeben. Dies ist eine deutliches Beispiel dafür, dass die internationale Solidarität keine Einbahnstraße ist und dass solche Aktionen auch hier gegen Repression wirksam sind.
Repression in München
In München wird - im Vergleich mit anderen Großstädten - häufiger festgenommen. Das kennt vermutlich jeder, der oder die öfters auf Demonstrationen war: irgendeine Demonstration, sagen wir mal, die Leute versuchen sich den Nazis in den Weg zu stellen. Schnell sind die Ordnungshüter zur Stelle, die Leute werden ruppig weg gedrängt und wer sich nicht schnell genug davon macht, wird noch etwas "ruppiger" angegangen und sitzt kurze Zeit später in einem Polizeibus. Häufig trifft man dort auch die Freundinnen und Freunde, weil sie meinten der Polizei sagen zu müssen, dass du nichts gemacht hättest und sie dich wieder freilassen sollen. Dir wird "Widerstand gegen Vollzugsbeamte" vorgeworfen und deinen FreundInnen vermutlich "versuchte Gefangenenbefreiung".
So oder so ähnlich fangen die meisten Repressionsfälle in München an und wenn man Glück hat bleibt es bei einer Identitätsfeststellung und man kann danach gehen. Oft wird man auch ins Polizeipräsidiums in die Ettstraße gebracht, muss eine ED-Behandlung (erkennungsdienstliche Behandlung) über sich ergehen lassen, die sehr unterschiedlich aussehen kann: Finger- und Handballenabdrücke, fotografiert und vermessen werden, manchmal aber auch der Versuch, eine DNA-Probe zu entnehmen. Es kann auch passieren, dass sich eine Hausdurchsuchung anschließt. Hausdurchsuchung wegen "Widerstand" oder "Gefangenenbefreiung"? Ja in München ist alles möglich, denn eine Hausdurchsuchung soll einschüchtern und liefert oftmals auch Erkenntnisse über dein Umfeld und Leben.
Einige Monate später, es kann aber auch länger dauern, flattern dann Bußgeldbescheide oder aber auch Gerichtstermine ins Haus. Die darin formulierten Vorwürfe können davon abweichen, was dir bei der Ingewahrsamnahme gesagt wurde: Aus dem "relativ harmlosen" Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte ist nun auch noch Ruck-Zuck "versuchte Körperverletzung" und "Landfriedensbruch" geworden. Das liegt daran, was den Behörden zweckmäßig erscheint, was sie meinen, vor Gericht noch "nachweisen" zu können. Dazu gehört freilich nicht viel, vor allem, wenn sich die Anklage auf die Aussagen von Polizeibeamten stützt, denn ein Polizeibeamter lügt nicht, er sieht genau hin und er ist gewissenhaft. Seine Aussage wiegt viel.
So lauten in München die meisten Verurteilungen "Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung (meist auch gegen die Polizeibeamten), Beleidigung" usw.
Rote Hilfe, Ortsgruppe München