2010 – Hundert Jahre mexikanische Revolution
Am 20. November jährte sich der Aufstand gegen den mexikanischen Diktator Porfirio Díaz zum hundertsten Mal. Dieser musste am 25. Mai 1911 abtreten und flüchtete ins französische Exil. Es folgte ein mehr als zehnjähriger blutiger Bürgerkrieg, an dessen Ende die „Institutionalisierung“ der Revolution stand. 1929 wurde die PNR (Nationale Revolutionspartei) gegründet, die – ab 1946 unter dem Namen PRI (Partei der institutionalisierten Revolution) – bis 2000 die Politik in Mexiko dominierte. Mit dem Massaker von Tlaltelolco im Oktober 1968 begann sie, ihre Legitimation zu verlieren, ein Prozess, der durch die Schuldenkrise in den 1980er Jahren und die neoliberale Politik in den 1990er Jahren beschleunigt wurde. 2000 verlor die PRI erstmals die Präsidentschaftswahlen. In vielen Bundesstaaten ist sie jedoch weiterhin die dominierende Kraft und es bahnt sich an, dass sie auch auf nationaler Ebene an die Regierung zurückkehren wird. Als kommender PRI-Vorsitzender wurde der ehemalige Gouverneur von Oaxaca, Ulises Ruiz, gehandelt, jedoch nur bis zur Wahlniederlage seines Nachfolgekandidaten am 4. Juli diesen Jahres.
Am 4. Juli 2010 fanden in Oaxaca sowie in anderen Bundesstaaten Gouverneurs- und Parlamentswahlen statt. Zum ersten Mal verlor die PRI die Wahlen in Oaxaca. Auf den ersten Blick könnte dies ein Zeichen für Veränderungen sein. Wenn man das politische Geschehen näher betrachtet, sieht man, dass alle wichtigen Mitglieder der neuen Landesregierung eine Vergangenheit in dieser Partei haben. Mit diesem Szenario verschwinden die Hoffnungen auf eine andere Art Politik sehr rasch. Besonders bemerkenswert ist, dass der jetzige Gouverneur von Oaxaca, Gabino Cue, als Innenminister dieses Bundesstaates in den 1990er Jahren für die Militarisierung der Region Loxicha verantwortlich war. Bei seiner Amtseinführung gab es deswegen in der Stadt Oaxaca zahlreiche Protestaktionen.
Der Lage in Oaxaca galt dieses Jahr unsere besondere Aufmerksamkeit. Insbesondere sorgten die Ereignisse in der indigenen Gemeinde San Juan Copala für internationale Aufmerksamkeit. Das Dorf wurde mehre Monate von einer regierungsnahen paramilitärischen Organisation umzingelt und die BewohnerInnen konnten es nicht verlassen. Es gab mehrere Versuche seitens der Zivilgesellschaft, die Belagerung zu durchbrechen. Da die Situation in der Gemeinde unhaltbar war, beschlossen zahlreiche Sozial- und MenschenrechtsaktivistInnen aus Mexiko, InternationalistInnen und einige JournalistInnen, eine humanitäre Karawane nach San Juan Copala zu organisieren. Am 27. April wurde die Karawane kurz vor der Einfahrt in das Dorf von den Paramilitärs angegriffen. Bety Cariño und Jyri Jaakola wurden bei dem Angriff ermordet, einige AktivistInnen wurden von den Angreifern mehrere Stunden festgehalten, andere konnten in den umliegenden Wald fliehen. Laut Aussagen der Opfer war das schnelle Handeln von internationalen Organisationen (u. a. des Öku-Büros) entscheidend, um ein noch größeres Blutbad zu verhindern.
Weder die Behörden in Oaxaca noch die Bundesbehörden zeigten Interesse, den Fall zu klären; die MitarbeiterInnen der Botschaften wurden nicht von den offiziellen Stellen über die Situation ihrer jeweiligen Landsleute informiert, sondern von den internationalen Organisationen. Trotz massiver Protestaktionen sogar von Europaabgeordneten – Jyri Jaakola war finnischer Staatsbürger – blieben die Morde weiterhin straflos, auch die zahlreichen Morde an den Gemeindemitgliedern wurden bisher nicht aufgeklärt. Auch wenn es mehr als ausreichende Beweise für paramilitärische Aktivitäten in der Region gibt, wurde nichts unternommen, um diese zu unterbinden.
In Mexiko verschlechterte sich sowohl die Lage der Menschenrechte, als auch die politische und wirtschaftliche Situation. In dem so genannten Krieg gegen das organisierte Verbrechen wurden seit Ende 2006 mehr als 30.000 Menschen ermordet, die Mehrzahl davon Jugendliche aus ärmeren Schichten. Mexikanische AktivistInnen sind der Meinung, dass es sich dabei nicht um bewaffnete Auseinandersetzungen, sondern um soziale Säuberung handelt. Zumindest in Ciudad Juárez war fast keines der Opfer bewaffnet. Die Anwesenheit der Bundespolizei, des Heeres und von Spezialeinheiten in konfliktreichen Regionen wird von MenschenrechtlerInnen, AktivistInnen und der Bevölkerung als negativ bewertet. Sie werden eher als Teil des Problems gesehen, als dass sie zu deren Lösung beitragen. Vor der Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) stieg die Zahl der Anzeigen gegen Militär und Polizei wegen Menschenrechtsverletzungen gegenüber dem Vorjahr an. Das Problem der Straflosigkeit bei durch Armeeangehörige begangene Delikte hat mit der umstrittenen Militärgerichtsbarkeit zu tun (siehe Jahresbericht 2009), so Luis Arriaga, Direktor des Menschenrechtszentrums „Miguel Agustin Pro Juárez“. Selbst internationale Gerichte wie der Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof verurteilen Mexiko wegen der Straflosigkeit bei Menschenrechtsverletzungen. Die zahlreichen Aufforderungen an den mexikanischen Staat, die notwendigen Änderungen in der Gesetzgebung vorzunehmen, damit nicht MilitärrichterInnen über Menschenrechtsverletzungen urteilen, die durch Armeeangehörige begangen wurden, blieben jedoch bisher unerfüllt.
Deshalb erfuhren wir im November 2009 mit Freude, dass der mexikanische Staat vor dem so genannten interamerikanischen Menschenrechtssystem (die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte und der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte) wegen drei der neun Frauenmorde von „Campo Algodonero“ in Ciudad Juarez von 2001 verurteilt wurde. Ein umfangreicher Auflagenkatalog ist Teil dieses Urteil (siehe Kasten). Doch auch ein Jahr nach der Urteilssprechung ist der Staat seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen. Er entledigt sich dieses Problems jedoch dadurch, dass er die ermordeten Frauen in Ciudad Juárez als „Opfer des organisierten Verbrechens“ betrachtet und somit die Zahl der Feminizide künstlich reduziert. Diese Haltung wird von den AktivistInnen als eine Respektlosigkeit gegenüber den Angehörigen der Opfer gesehen. Wie Yesica Sánchez Maya während ihrer Rundreise im Januar berichtete, ist das Problem der Frauenmorde kein exklusives Merkmal von Ciudad Juárez. Auch in Oaxaca bleiben Frauenmorde straflos. Damit macht sich der Staat zum Komplizen und ist somit verantwortlich für die Gewalt gegen Frauen.
Die Straflosigkeit der Frauenmorde ist das größte Kreuz in Ciudad Juárez
Die verschiedenen Instanzen des mexikanischen Justizapparates verfügen über keine Genderperspektive, die den Frauenbelangen eine angemessene Behandlung ermöglichen würde. Trotzt wiederholter Empfehlungen und Aufforderungen an die Behörden, das zu ändern, gab es bis jetzt keine bemerkenswerten Veränderungen. Die Bundes-, sowie Landesregierungen sprechen immer davon, wie viel Geld sie schon in diese Sache investiert hätten. Die AktivistInnen und Organisationen verneinen diese Investitionen nicht, sie betonen aber, dass sich ohne eine dezidierte Bekämpfung der Straflosigkeit nichts am Ausmaß der Feminizide ändert.
2010 fanden in Mexiko zahlreiche ArbeiterInnenkämpfe statt. Der vielleicht sichtbarste war der der ArbeiterInnen der staatlichen Elektrizitätswerke „Luz y Fuerza del Centro“ (LFC), nachdem die LFC 2009 geschlossen wurden. Trotz des hohen Organisationsgrads und der zahlreichen Solidaritätsbekundungen von sozialen Akteuren aus Mexiko und dem Ausland konnte die Schließung der LFC nicht rückgängig gemacht werden. Viele der Protestaktionen waren nicht selten von Repression begleitet. Wir könnten noch viele Beispiele für die Verletzung von ArbeiterInnenrechten aufführen, so dass man als ein Merkmal der mexikanischen Regierung feststellen kann, dass sie den ArbeiterInnen den Rücken zukehrt.
Eine weitere offene Wunde in Sachen Menschenrechte bleibt die Situation der TransmigrantInnen in Mexiko. Seit mehreren Jahren beklagen Organisationen die Verwundbarkeit derer, die versuchen, Mexiko zu durchqueren, um in die USA zu gelangen. Das markanteste Beispiel dafür stellte das Massaker an 72 MigrantInnen aus verschiedenen Ländern im Bundesstaat Tamaulipas dar. Die Leichname wurden am 25. August entdeckt. Wie üblich in solchen Fällen wurden bis jetzt keine Verantwortlichen für diese Gräueltat gefunden.
"La Bestia" so nennen die MigrantInnen de Zug, der sie Richtung Norden bringrn soll
Jenseits dieser schlechten Entwicklungen in Sachen Menschenrechte hat der Oberste Gerichtshof am 30. Juni die Freilassung der zwölf noch inhaftierten Aktivisten aus Atenco angeordnet. Nach vier Jahren Haft kamen sie wieder frei. Ignacio del Valle war zu 112 Jahren Haft verurteilt worden, Felipe Alvarez und Hector Galindo zu 67; weitere neun Gefangene waren zu je 31,5 Jahre verurteilt worden. Wichtig war die Begründung des Urteils, wonach es sich in diesem Fall um ein deutliches Beispiel für Kriminalisierung von sozialen Protesten handelte. Diese Entscheidung ist sicher der massiven Solidarität aus allen Ecken der Erde zu verdanken. Dass die Gefangenen frei sind, bedeutet jedoch nicht, dass Gerechtigkeit herrscht. Es stehen noch die Anzeigen von 16 Frauen aus, die den Staat wegen der sexuellen Übergriffe durch Polizeibeamte vom 3. und 4. Mai 2006 anklagen. An jenem Tage wurden auch zwei Aktivisten ermordet, zahlreiche Menschen verprügelt, gefoltert und willkürlich verhaftet; keiner der Verantwortlichen wurde bisher verurteilt. Der Fall Atenco wurde also nicht mit der Freilassung der Gefangenen abgeschlossen, aber wie Felipe Alvarez sagt: „Es war ein Sieg der organisierten Zivilgesellschaft, und er gehört als solcher gefeiert.“
Die Freilassung der politischen Gefangenen von Atenco war ein Sieg der gesamten Zivilgesellschaft
Der Gruß zum Jahresende von einem von mir sehr geachteten Kämpfer für die Menschenrechte zum Abschluss dieses Berichts zur Lage in Mexiko und als Verpflichtung unserer Solidarität mit den Menschen, die dort tagtäglich für ein besseres Leben kämpfen:
„Das Jahr, von dem wir uns verabschieden, war wieder voller Blutvergießen und Unrecht ohne Richter. Viel ausrichten konnten wir dagegen nicht, aber es gab doch auch mancherlei Lichtblicke und das Erlebnis, verbündet zu sein.“