Jahresbericht 2007:

Nicaragua im ersten Jahr unter der neuen Regierung Ortega: Abkehr vom Neoliberalismus, Abkehr von der Demokratie

Als Ortega am 10. Januar 2007 die Präsidentschaft übernahm, glaubten bereits die wenigsten an eine Rückkehr des Sandinismus der 80er Jahre, auch wenn der Präsident sich in dieser Aura, dekoriert mit »spirituellem« Beiwerk, der Öffentlichkeit präsentierte. Aber viele NGOs und soziale Bewegungen erwarteten bei allem Misstrauen gegen den Machtapparat der FSLN, dass nach 16 Jahren Neoliberalismus und Korruption nun neue Spielräume für politische Veränderungen entstehen würden.

Auch wenn sich seitdem tatsächlich einiges getan hat - viele Organisationen ziehen eine negative Bilanz: Vilma Núñez vom Menschenrechtszentrum CENIDH findet für den Regierungsstil des Präsidenten Worte wie Geheimniskrämerei, Vetternwirtschaft und Autoritarismus. Und sie beklagt eine schädliche Vermischung von Staat, Partei und Familie: Ortegas Wohnhaus in Managua dient gleichzeitig als Parteizentrale und Regierungssitz. So ist seine Ehefrau Rosario Murillo - ohne jedes demokratische Mandat - entscheidend an der dort konzentrierten Macht beteiligt.

Die »Regierung für Versöhnung und nationaler Einheit« der FSLN ist tatsächlich in vieler Hinsicht außergewöhnlich: Ortega nimmt in großen Worten Bezug auf die eigene sandinistische Tradition und die »Brüder« in Venezuela und Cuba und wettert gegen die USA, achtet aber darauf, die Handelsbeziehungen nicht zu gefährden. Daneben gibt es viel Bezug auf Religion, Kirche und Familie, besonders von Rosario Murillo, sodass nicht wenige Verlautbarungen der Regierung dem Stil nach mit Sektenpropaganda vergleichbar sind (Kostprobe unter http://www.presidencia.gob.ni ). Viele hochtrabende Ankündigungen, etwa die Beendigung der Energiekrise, stellen sich als Schnellschüsse heraus, was den Eindruck von Konzeptlosigkeit und Demagogie verstärkt.

Deutlich ist der Regierung aber auch der Elan anzumerken, mit dem ihr an Maßnahmen zugunsten armen Bevölkerungsmehrheit gelegen ist. Gleichzeitig gibt sie sich jedoch freundlich-pragmatisch gegenüber dem Unternehmerverband COSEP und dem IWF, was zur Folge hat, dass für viele Vorhaben die Mittel fehlen, da die Privilegien der Reichen nicht angetastet werden.

Das Hauptinteresse des Präsidentenpaares liegt jedoch nach einhelliger Meinung der BeobachterInnen im eigenen Machterhalt, und hierin erweist sich die FSLN als äußerst kompetent. Intern streng hierarchisch, agiert sie mit allen Mitteln der politischen Intrige und hat sich bereits vor der Wahl eine erhebliche Machtkonzentration erarbeitet, die in diesem Jahr konsequent ausgebaut wurde. Die ihrerseits korrupte Opposition ist in sich gespalten und bei Bedarf käuflich. Von der Hoffnung vieler demokratisch gesinnter Kräfte, ihre Interessen über die FSLN-Abspaltung MRS im Parlament zu vertreten, blieb nur ein versprengter Rest von drei Abgeordneten.

Klientelismus statt Basisdemokratie: die sogenannten Bürgerräte

Wie weit diese Missachtung demokratischer Spielregeln der FSLN im Dienste des eigenen Heilsversprechens fortgeschritten ist, spiegelt sich in der Auseinandersetzung um die sogenannten Bürgerräte (Consejos de Poder Ciudadano, CPC) wider:

Dieses von der Ortega-Regierung ins Leben gerufene Instrument soll den BürgerInnen die Möglichkeit geben, sich auf Gemeinde-, Landkreis- und Bezirksebene zu organisieren, sich über ihre Bedürfnisse klar zu werden und direkt mit den PolitikerInnen in Dialog zu treten. Die oberste Aufsicht über die CPC hat die Präsidentengattin Murillo, auch hier wieder ohne jedes demokratische Mandat.

Der behauptete Charakter einer direkten Demokratie (Slogan »El Pueblo Presidente«) wird allgemein stark bezweifelt, denn die Räte werden von den entsprechenden Gremien der FSLN installiert, tagen in den Parteibüros der FSLN, und BürgerInnen, die der FSLN fern stehen, haben verschiedenen Berichten zufolge kaum Chancen, an diesem System teilzunehmen. Schlimmer noch, es droht sogar ein Rückschritt. An manchen Orten werden bereits existierende Mitsprachemöglichkeiten eingeschränkt, indem die FSLN versucht, die bestehenden kommunalen Entwicklungskomitees aufzulösen oder zu vereinnahmen. Damaris Ruiz, die Sprecherin der nicaraguanischen Organisation Red de Desarrollo Local, einem Netzwerk zur Förderung der Bürgerbeteiligung, berichtet: »Es gibt verschiedene Einschätzungen der CPC: die einen verstehen sie als Raum, um mit der Regierung in Dialog zu treten, die anderen sehen sie als ein weiteres Parteigremium der FSLN.«

Noch deutlicher wird Dora Maria Tellez, ex-comandante der FSLN und Sozialwissenschaftlerin: »Es geht dem Präsidentenpaar darum, einen straffen Klientelismus zu etablieren. Deshalb lassen sie die CPC Reis, Bohnen und Medizin verteilen. So wie Ortega und Murillo intolerant gegen alle anderen Organisationen sind, versuchen die CPC, den anderen sozialen Organisationen das Recht zu nehmen, an der öffentlichen Auseinandersetzung teilzunehmen.«

Ob das äußerst fortschrittliche System des Partizipativen Haushalts auf Gemeindeebene, dessen Ausübung unsere Partnerorganisation Movimiento Comunal de Matagalpa (MCM) fördert, die Einrichtung der CPC überlebt, muss sich bei den diesjährigen Haushaltsverhandlungen zeigen. Damaris Ruiz: »Dann werden wir sehen, ob die Regierung die verfassungsmäßige Garantie des Partizipativen Haushalts respektiert, denn dies zwingt sie, alle, unabhängig von der Parteizugehörigkeit, in die Versammlungen einzuladen.«

Die Förderung von politischer Bildung und Organisierung bei der Landbevölkerung gehört zu den zentralen Anliegen von Ökumenischem Büro und Movimiento Comunal. Deshalb unterstützen wir im Rahmen unserer Solidaritätsbrigaden den Bau von kommunalen Zentren, die diesen Zwecken dienen. Mit der Einführung der CPC werden die bisherigen Erfolge auf diesem Gebiet gefährdet.

Bei der Parlamentsentscheidung, ob die CPC aus Staatsmitteln zu finanzieren seien, erlitt die FSLN im Dezember eine Niederlage. Der sandinistische Parlamentspräsident unterließ daraufhin die Veröffentlichung der Entscheidung. In der folgenden Woche annulierte der ebenfalls sandinistisch dominierte Oberste Gerichtshof die Entscheidung des Parlaments. Als tags darauf eine 6000köpfige Demonstration den Präsidentensitz mit der Forderung nach Einhaltung des Grundgesetzes aufsuchte, entzog sich Ortega mit der Begründung, er habe andere Dinge zutun gehabt.

Generelles Abtreibungsverbot: Politischer Opportunismus und religiöser Konservatismus führt zu Menschenrechtsverletzungen

Die wohl umstrittenste Maßnahme der Regierung Ortega ist die Einführung eines generellen Abtreibungsverbotes. Das entsprechende Gesetz war in der Endphase des Wahlkampfes im November 2006 auf Drängen der Kirchen verabschiedet worden. Ein solches Verbot besteht weltweit nur in vier Ländern. Wer anfangs dachte, die FSLN habe diesem Verstoß gegen international gültige Frauenrechte nur aus wahltaktischen Gründen zugestimmt, wurde im Oktober diesen Jahres enttäuscht. Das Parlament bestätigte nochmals mit großer Mehrheit das Verbot, darunter alle anwesenden FSLN-Abgeordneten. Der intensive Widerstand der nicaraguanischen Frauenbewegung und in geringerem Maße auch der Ärzteschaft erreichte lediglich, dass viele Abgeordnete der Abstimmung fernblieben, um nicht in den Konflikt zwischen eigenem Gewissen und Fraktionsdisziplin zu geraten. Das Ökumenische Büro unterstützte die Kampagne der Frauenbewegung mit einer Protestbriefaktion von Deutschland aus (siehe Seite XX). Im Dezember wurden neun exponierte Mitglieder der nicaraguanischen Frauenbewegung wegen Beihilfe zur Vergewaltigung angezeigt, weil sie im Jahr 2004 der damals 10jährigen Rosita, die in Costa Rica vergewaltigt worden war, zu einer Abtreibung verholfen hatten. Der politische Charakter des Vorgangs ist offensichtlich: Die in Nicaragua starke und unabhängige Frauenbewegung soll auch deshalb gebremst werden, weil sie nach wie vor die Anklage von Zoilamerica Narvaez gegen ihren Stiefvater Daniel Ortega wegen Missbrauchs unterstützt. Auch im Fall der neun Anzeigen hat die Frauenbewegung um internationale Unterstützung gebeten . Das Ökumenische Büro, einst gegründet infolge des Aufrufs von Daniel Ortega, für Brigaden nach Nicaragua zu kommen, findet sich heute auf der Seite der Opfer und GegnerInnen seiner Politik wieder. Das ist kein Zufall: Wir sind unserem Konzept der Unterstützung emanzipatorischer Bewegungen in Nicaragua treu geblieben.

Spürbare Veränderungen

Dennoch wäre es undifferenziert, die Regierung in eine Reihe mit ihren neoliberalen Vorgängerinnen zu stellen. Dass eine politische Wende stattfindet, ist in vielen Bereichen deutlich zu spüren:

Nicaraguas größte Hoffnung sind neue Wege in der Außenpolitik. Gleich am ersten Tag seiner Regierungszeit trat Ortega dem linken Staatenbündnis ALBA bei, das aus den Ländern Venezuela, Cuba und Bolivien besteht. Einiges an Hilfsleistungen ist bereits im Land eingetroffen, darunter verbilligtes Öl, ein Kraftwerk, medizinische Hilfe und Hilfe bei der Alphabetisierung. Der Pakt mit der lateinamerikanischen Linken lässt aber nicht den Schluss zu, dass es sich bei Nicaraguas Regierung ebenfalls um ein linkes Projekt handelte. William Rodriguez vom Sozialforschungsinstitut CEI in Managua meint dazu: »Der Staat gleicht einer Mega-NGO. Er versteht seine Aufgabe darin, überall wo möglich Geld zu organisieren und damit Segnungen für die Bevölkerung zu bezahlen.« So verwundert es auch nicht, dass man eine konsistente linke Strategie wie in den anderen drei Ländern vergeblich sucht. Linke Rhetorik dient zwar als Türöffner für ALBA, aber genauso interessant für Ortega sind Vereinbarungen mit den USA, Taiwan, China, Iran, Brasilien, Nordkorea und der EU. Dabei ist die Diversifizierung der Handelsbeziehungen an sich keine unvernünftige Politik in einem Land, das im Jahre 2006 70% seiner Exporte in die USA lieferte. Aus Sicht des Ökumenischen Büros dürften in diesem Zusammenhang die derzeit beginnenden Verhandlungen zu einem sogenannten Assoziierungsabkommen EU-Zentralamerika relevant werden.

Die wichtigsten Veränderungen finden aber in Kernsektoren wie Gesundheit, Bildung, Landwirtschaft, Wasser und Energie statt. Hier sind kompetente SpezialistInnen in verantwortliche Positionen berufen worden, deren Handeln ein Interesse an der Bevölkerung erkennen lässt, das bei den bisherigen Regierungen nicht vorhanden war. Neben den Bestrebungen, Gesundheit und Bildung wieder zu allgemein verfügbaren Gütern zu machen, sind erwähnenswert das Armutsbekämpfungsprogramm »Hambre Cero« (Null Hunger), die Kleinkreditbank zur Unterstützung vor allem der kleinbäuerlichen Landwirtschaft und des Kleinstgewerbes und das Alphabetisierungsprogramm »Yo sí puedo« (Ja, ich kann). All diese Maßnahmen zielen in die richtige Richtung, jedoch ist kaum eine frei von Pferdefüßen wie der Bevorzugung bestimmter Gruppen oder einem eklatanten Ungleichgewicht zwischen dem Versprochenen und dem tatsächlich Erreichten. Strukturelle Probleme wie ein korrupter Staats- und Parteiapparat und geringe Haushaltsmittel erschweren diese wünschenswerten Initiativen.

Aus Sicht des Ökumenischen Büros besonders interessant ist die politische Wende in der Wasserpolitik: Die neue Vorsitzende des staatlichen Wasserversorgungsunternehmens ENACAL, Ruth Selma Herrera, stammt aus der angesehenen Verbraucherschutzorganisation RNDC. Nachdem analog zu den Vorgaben von IWF und Weltbank jahrelang eine Dezentralisierung und Privatisierung der Wasserversorgung vorangetrieben wurde, schlägt sie den umgekehrten Kurs ein. Das Wasser soll wieder unter zentrale staatliche Kontrolle. Dieser Politikwechsel sorgte unter anderem in der deutschen Entwicklungspolitik für einigen Ärger, war doch die Dezentralisierung im Wasserbereich ein Schwerpunkt der deutschen Entwicklungshilfe. Der Arbeitskreis Entwicklungspolitik im Ökumenischen Büro beschäftigte sich eingehend mit dem Thema.

Eine Bewährungsprobe für die Regierung stellten die Hurrikan- und Unwetterkatastrophen der Monate September und Oktober dar. Außer den über 300 Todesfällen kam es landesweit zu verheerenden Verwüstungen mit schweren ökonomischen und ökologischen Verlusten. Betroffen war auch die Region Matagalpa, in der unsere Partnerorganisation MCM ansässig ist. Wir beteiligten uns mit einer Spendenaktion an den umfangreichen internationalen Hilfsleistungen. Der neuen Regierung wurde von vielen BeobachterInnen immerhin ein besseres Zeugnis für ihr Katastrophen-Mangagement ausgestellt als den Vorgänger-Regierungen. Dennoch wurden die Maßnahmen in Matagalpa als zu langsam und ineffizient beurteilt.

Das Beispiel Nicaragua gewinnt damit nach 16 Jahren Mitschwimmen im neoliberalen Mainstream wieder eine gewisse Einzigartigkeit. Aber so außergewöhlich die jetzige Situation in dem Land auch sein mag, spiegelt sie doch die Verhältnisse auf dem Kontinent wider: Um sich heute gegen den Neoliberalismus und die US-Hegemonie zu wenden, braucht es keine gut organisierte Guerilla mit hoch moralischen Zielen mehr, denn ein neuer Contra-Krieg ist nicht zu befürchten; es reicht schon ein in die Jahre gekommener Populist mit Hang zu religiöser Rhetorik. Die Machtkonstellation in Lateinamerika hat sich in wenigen Jahren tiefgreifend verändert. In dieser neuen Situation ist die Möglichkeit für eine wirkliche Unabhängigkeit enthalten. Man darf gespannt sein, wohin dieser Weg Nicaragua führen wird. Was die Regierung Ortega daraus macht, erscheint uns vor allem gefährlich. William Rodriguez vom CEI meint: »Die Demokratie ist hierzulande noch jung. Man kann nicht alles auf einmal erwarten.«

In diesem Klima sind starke und unabhängige soziale Bewegungen und eine gut informierte Bevölkerung wichtiger denn je. Das Erreichen dieser Ziele werden wir auch weiterhin unterstützen.


 

(as)
Nicaragua im ersten Jahr unter der neuen Regierung Ortega: Abkehr vom Neoliberalismus, Abkehr von der Demokratie
Erschienen im Jahresbericht 2007 des Ökumeninschen Büros
München
Dezember 2007

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