Jahresbericht 2007:
Der Neue ist wie der Alte: Die Regierung Felipe Calderón und die Menschenrechte in Mexiko
Auch wenn im Jahr 2007 in Mexiko keine spektakulären Ereignisse wie die Stürmung der Kleinstadt Atenco oder die Niederschlagung der Volkserhebung in Oaxaca stattgefunden haben, können wir nicht von einer Verbesserung der Menschenrechtssituation oder einem Rückgang der Gewalt und Repression sprechen; vielmehr hat diese subtilere Formen angenommen.
Aber welche Gründe hat der zu beobachtende Rückgang der Virulenz der sozialen Konflikte? Wir vermuten, dass die massive Präsenz der Streit-, Repressions- und Sicherheitskräfte in der Öffentlichkeit ihren Zweck erfüllt hat, nämlich den der Einschüchterung der Bevölkerung. Auch massive Inhaftierungen von Sozial- und MenschenrechtsaktivistInnen haben zum Rückgang der Mobilisierung beigetragen.
Menschenrechtsverletzungen als Teil der Regierungspolitik Bereits die ersten Tage der Präsidentschaft von Felipe Calderón im Dezember 2006 zeigten deutlich, dass er sich auf das Militär stützen würde um seine geringe Legitimation auszugleichen. Er zeigte sich bewusst häufig mit der Truppe und trug als erster mexikanischer Präsident sogar Militäruniform. Er setzt auf die Präsenz des Militärs in der Öffentlichkeit, um die wachsende organisierte Kriminalität zu bekämpfen. Viele Menschenrechtsorganisationen werten die Militärpräsenz aber als Bedrohung der Bevölkerung. Sie glauben, die wahre Aufgabe des Militärs sei die der Einschüchterung: Angehörige der Streitkräfte sind immer öfter in Repressionsakte verwickelt. Die im Bundesstaat Oaxaca zahlreichen Kontrollposten und Patrouillenfahrten mit schwer bewaffneten Soldaten erzeugen bei der Bevölkerung ein Gefühl der Bedrohung. So wurde am 16. Juli während einer Demonstration der APPO in Oaxaca Stadt der Demonstrant Manuel Coronel von Heeresangehörigen in Zivil entführt. Zwei der Entführer, die von DemonstrantInnen aufgehalten wurden, trugen Ausweise der Armee bei sich. Laut einer Anzeige des Menschenrechtszentrums José Agustín Pro Juárez, starb die Indígena Ernestina Ascencio aus Veracruz an den Verletzungen, die ihr bei einer Gruppenvergewaltigung von Soldaten zugefügt worden waren. Nach dem Mord behauptete die Bundesregierung, sie sei aufgrund eines nicht behandelten Magengeschwürs gestorben. Was aber in diesem Zwischenfall am meisten überraschte, war die Haltung der staatlichen Menschenrechtskommision (CNDH), deren Präsident José Luis Soberanes diese Behauptung unterstützte und so Regierung und Militärführung deckte, die sich bemühten, jegliche Untersuchung des Falles zu verhindern. Am 2. Juni wurden an einem Kontrollposten des Militärs im Bundesstaat Sinaloa fünf Personen erschossen und drei weitere schwer verletzt. Auch hier versuchten die zuständigen Behörden, sich aus der Verantwortung zu ziehen. So wurde erklärt, die Soldaten hätten einen Angriff abgewehrt, was aber nicht bewiesen werden konnte.
Beruhigung im Parlament Die parteipolitische Lage in Mexiko hat sich nach einer stürmischen Nachwahlzeit beruhigt, die Parteien scheinen ein Gleichgewicht im Parlament gefunden zu haben. So sind einige Reformen zustande gekommen, bei denen fragwürdig bleibt, ob diese dem ärmsten Teil der Bevölkerung zugute kommen werden. In einer Steuerreform wurde beispielsweise eine Erhöhung der Brennstoffpreise beschlossen, die einen direkten Einfluss auf die Inflation haben wird. Miguel Álvarez von der Friedensforschungsorganisation SERAPAZ erklärte uns hierzu: »Es ist nur eine Frage der Zeit, wie lange das System die andauernde Krise noch überdecken kann«.
Frauenmorde in Ciudad Juarez werden weiterhin von höchsten Stellen gedeckt Die Straflosigkeit der Frauenmorde in Ciudad Juárez bleibt weiterhin unangetastet. Wie uns Marisela Ortiz, Direktorin von Nuestras Hijas de Regreso a Casa (NHRC), mitteilte, gibt es aber einige Verbesserungen. Der Umgang der RegierungsvertreterInnen mit den Angehörigen der Opfer sei weniger arrogant, als es in der Vergangenheit der Fall war. Die jetzige Landesregierung von Chihuahua habe einige gute Präventionsmaßnahmen ergriffen. Aber, so die Aktivistin, dies verberge das immer noch bestehende Problem der Straflosigkeit, d.h. der Verhinderung der Aufklärung der Frauenmorde. Unseren Erkenntnissen nach gibt es einen Pakt zwischen Stadt- und Landesregierung mit dem Ziel, das Image der Stadt Ciudad Juárez aufzubessern. So soll die Landesregierung etwa eine Million US-Dollar zur Verfügung gestellt haben, um das Thema durch PR-Aktionen und Präventionsmaßnahmen in ein anderes Licht zu rücken. Es wird versucht, die Statistik über die Mordfälle so zu behandeln, dass die Anzahl der systematischen Frauenmorde geringer erscheint. Frauenleichname mit deutlichen Spuren von Gewalt werden von den Behörden als »eines natürlichen Todes gestorben« dargestellt. Die Mitglieder von NHRC sind zunehmenden Bedrohungen ausgesetzt. So wurde Anfang August das Auto von Frau Ortiz zwei Mal angeschossen. Auch wird versucht, die Arbeit der Organisation zu diskreditieren. Anfang Oktober wurden einer Delegation deutscher Bundestagsabgeordneter, die Ciudad Juarez besucht hatte, in verschiedenen Medien Aussagen zugeschrieben, die den Eindruck erweckten, dass sie durch die Organisation Nuestras Hijas de Regreso a Casa getäuscht worden seien und dass in der Folge Sanktionen gegen Mexiko vorgesehen gewesen seien. Beide Behauptungen wurden von den deutschen Abgeordneten auf Nachfrage des Ökumenischen Büros dementiert.
Der Aufstand in Oaxaca ist niedergeschlagen - die Konflikte bleiben In Oaxaca hat die APPO, die im Jahr 2006 an der Spitze einer Volkserhebung gestanden hatte, seit November 06 nicht mehr die Hauptstadt unter ihrer Kontrolle. Das heißt aber nicht, dass der Konflikt beendet ist. Wie uns die AktivistInnen Jaquelina López Almazán und Samuel Hernández Flores während ihrer Rundreise erklärten: »Das Ende der Blockaden wurde nur durch eine exzessive Anwendung von Gewalt von Seiten der bundesstaatlichen und nationalen Repressionskräfte herbeigeführt.« Nach einem schmerzhaften Rückzug, wo viele ihrer Mitglieder entweder inhaftiert, untergetaucht oder außerhalb des Bundesstaats Oaxaca geflohen waren, hat die APPO angefangen sich wieder zu artikulieren. Bereits zu Anfang des Jahres gab es erste Demonstrationen, die größte fand am 14. Juni statt, zum Jahrestag der versuchten Räumung des Widerstandscamps von LehrerInnen und sozialen Organisationen. Vielleicht das schwerste Hindernis für das Weiterbestehen der APPO stellen interne Differenzen dar. Ob daraus eine erneuerte Form der Organisierung entstehen kann, ist derzeit noch nicht abzusehen. Die Bevölkerung hat im letzten Jahr Erfahrungen gewonnen, die sie als sozialen Akteur jenseits von Parteien, Organisationen, NGOs etc. positioniert hat, und die Ursachen des Konflikts sind nicht behoben worden. Es ist zu erwarten, dass die so genannte »Kommune von Oaxaca« einen zweiten Teil haben wird. Es finden derzeit auch bundesweite Vernetzungsversuche statt, wie die APPM (Versammlung der Völker von Mexiko) und ein Volkstribunal, bei dem die Verantwortlichen für die Repression angeklagt werden. Die ersten beiden Termine des Tribunals fanden bereits statt. Juristische Konsequenzen wird es nicht geben, aber durch diese Maßnahme entsteht wieder eine politische Auseinandersetzung, und Gruppen, die von der staatlichen Repression betroffen waren, kommen zusammen und dabei entstehen neue Strategien im Kampf gegen die Straflosigkeit.
(dt)
Der Neue ist wie der Alte: Die Regierung Felipe Calderón und die Menschenrechte in Mexiko
Erschienen im Jahresbericht 2007 des Ökumeninschen Büros
München
Dezember 2007