Solidaritätsbrigade nach Nicaragua 2006

Solidaritätsbrigade nach Nicaragua: »Wie hältst du´s mit dem Staat?«

Zunächst erscheint das Schwerpunktthema »Staat« unserer diesjährigen Brigade ein wenig trocken und abstrakt. Der Erfolg der Brigade spricht aber dafür, dass es sich lohnt, einmal zu beleuchten, welche Rolle dieser überall präsente Faktor spielt - im Gefüge unserer Solidaritätsarbeit, aber auch in unserem täglichen Leben und Denken.

Während in den Anfängen des Öku-Büros der Bezug auf den nicaraguanischen Staat Inhalt, ja Kern unserer Solidaritätsarbeit war, zeigen wir uns heute solidarisch mit einzelnen Menschen und Organisationen, die für politische Veränderungen eintreten.

Wie halten´s unsere PartnerInnen in Nicaragua heute mit dem Staat? Macht es angesichts korrupter Parteien und des Diktats von Freihandelsverträgen, IWF und Konzernen noch Sinn, Hoffnung in Veränderungen durch den Staat zu setzen? Und welches Verhältnis haben wir im Öku-Büro zu »unserem« Staat, dem deutschen?

Die Vorbereitung

Und wie halten´s die BrigadistInnen mit dem Staat? Die Antwort kommt meist recht schnell, schwieriger fällt es, sie zu begründen. Hier lohnte sich ein Ausflug in die Welt der Staatstheorie, den wir in der Vorbereitungsphase der Brigade unternahmen. Wir befassten uns mit Theorien von Locke, Rousseau und Marx, Foucault und Poulantzas, Hirsch und Holloway, mit Liberalen, SozialdemokratInnen, FeministInnen, AnarchistInnen und KommunistInnen.

An den vier Vorbereitungswochenenden erfolgte außerdem eine allgemeine inhaltliche Vorbereitung mittels Referaten, zum Beispiel zur Geschichte Nicaraguas, zur Rolle der Frauenbewegung, zur Politik von IWF und Weltbank oder zu Inhalten und Organisationsformen sozialer Bewegungen in Nicaragua. Ebenso wichtig ist uns in der Vorbereitung, funktionierende Gruppen- und Entscheidungsstrukturen aufzubauen.

Ein weiterer zentraler Aspekt ist die Auseinandersetzung mit kulturellen Verschiedenheiten bereits vor dem Aufenthalt. Dies geschieht durch ein interkulturelles Training, bei dem die Aspekte Rassismus und Dominanz eine wichtige Rolle spielen.

So vorbereitet begab sich eine gut gelaunte und hoch motivierte Brigadegruppe nach Nicaragua: Von jungen Abiturienten bis zu erfahrenen Öku-Büro-AktivistInnen hatten alle ihren Platz gefunden, von dem aus sie das Ganze bereichern und gleichzeitig persönlichen Gewinn erzielen konnten.

Gleichzeitig mit, ohne und gegen den Staat: Arbeitseinsatz beim Movimiento Comunal in Matagalpa

Die ersten drei Wochen verbrachte die Gruppe auf dem Land in Matagalpa im geographischen Zentrum Nicaraguas, im Landkreis Esquipulas. In der Region Matagalpa arbeitet unsere Partnerorganisation, das Movimiento Comunal de Matagalpa (MCM), mit verschiedenen kommunalen Organisationen, Kooperativen und Basisorganisationen zusammen.

Das »Movimiento« befasst sich schwerpunktmäßig mit Organisations- und politischer Bildungsarbeit auf dem Land:

Um unter schwierigen Bedingungen erfolgreich wirtschaften zu können oder die eigenen Interessen gegenüber der fernen Zentralregierung erfolgreich vertreten zu können, ist es zunächst notwendig, sich zu organisieren und sich der Ursachen der eigenen Probleme bewusst zu werden. In einem zweiten Schritt kann dann damit begonnen werden, Auswege aus der eigenen Situation zu finden. Dazu müssen Versammlungen abgehalten werden, Fortbildungen in den unterschiedlichsten Bereichen (Gesundheit, Landwirtschaft, Menschenrechte, politische Partizipation etc.) und für die unterschiedlichsten Gruppen (Frauen, Jugendliche, Männer, Bauern und Bäuerinnen) organisiert werden. Für all dies soll die neue Casa Comunal (Gemeindezentrum) in Esquipulas Raum und Gelegenheit bieten, die in Zusammenarbeit mit den TeilnehmerInnen der Solidaritätsbrigade und freiwilligen UnterstützerInnen aus dem Landkreis gebaut wurde. Finanziert wurde das Projekt größtenteils durch Spenden aus dem Ökumenischen Büro und durch Gelder, die die BrigadistInnen durch Aktionen und eigene Werbung aufgetrieben hatten.

Während des Landaufenthalts lebten die »brigadistas« in Familien in Esquipulas, um den Lebensalltag der Menschen auf dem Land mit zu erleben und führten neben den Bauarbeiten auch verschiedene Gespräche, um die Projekte der Partnerorganisation und kommunale Verwaltungsstrukturen kennen zu lernen. Zudem stand ein Besuch in einer Kaffeekooperative mit auf dem Programm. Ein Ausflug nach San Isidro gab den BrigadistInnen die Gelegenheit, die dort vor zwei Jahren in Zusammenarbeit mit dem Ökumenischen Büro und der Resi-Huber-Brigade 2004 erbaute Casa Comunal in Funktion zu bewundern. Der dortige Promotor des Movimiento, Douglas, und Sergio Saenz vom Zentralbüro des MCM erläuterten anhand der praktischen Arbeit vor Ort ihr Verhältnis zum nicaraguanischen Staat: »In der sandinistischen Ära hatte die hiesige Landbevölkerung große Hoffnungen auf den Staat: Es gab Bildung, Gesundheit, Land... Heute, wo sich die Versorgung zunehmend verschlechtert, gibt es diese Möglichkeit, Hoffnung in die Autorität von oben zu legen, nicht mehr. Die einzige Alternative zur Resignation ist die Selbstorganisation von unten. ‚Solo el pueblo salva al pueblo - Das Volk kann sich nur selbst retten'.« Oberstes Ziel des MCM sei also, die Menschen in die Lage zu versetzen, sich selbst zu organisieren und so vom Objekt der Politiker zum Subjekt ihrer Geschichte zu werden. Das MCM arbeite gleichzeitig mit, ohne und gegen den Staat: Mit, weil es in Bereichen wie dem Katastrophenschutz gelte, landesweite Präventionsstrategien abzustimmen und hier der Staat in seine Pflicht genommen werden müsse. Ohne, weil es darum gehe, die lokalen Märkte und die Selbstorganisation zu stärken, um von staatlicher Hilfe und Außenhandel unabhängiger zu werden. Und gegen, weil es Ziel der politischen Bildungsarbeit des MCM sei, die Bevölkerung auch auf nationaler Ebene handlungsfähig zu machen und ihre Rechte einzufordern. Aktuell diskutiert wurde die enorme Verschlechterung der Stromversorgung und die Forderung an die Regierung, die Privatisierung dieses Sektors rückgängig zu machen.

Einen weiteren Beleg für den Erfolg dieser Strategie erlebten wir in dem Weiler El Porton: Auf die Frage, was ihr am Movimiento Comunal gefalle, antwortete die 75jährige Doña Ecsequia: »Wir haben gelernt, zu reden, besonders die Frauen. Wo wir es früher nicht mal wagten, eine Antwort zu geben, wenn wir gefragt wurden, stellen wir heute selber die Fragen.« Dies bezeugen auch die 50 Latrinen, die die Bevölkerung von El Porton bei der Landkreisverwaltung einforderte und auch erhielt.

Sergio Saenz: »Seit wir unsere Strategie verlagert haben von Entwicklungshilfe zu Organisierungsarbeit und politischer Bildung, ist unsere Arbeit nicht unbedingt einfacher geworden. Wenn du mit Projekten kommst, sagen die Leute natürlich ‚Danke, mehr davon!' Was dann passiert, ist, dass die Leute passiv auf Verbesserungen von außen warten. Organisierung und politische Bildung sind für uns der Weg, den asistencialismo zu vermeiden. Dafür sind wir aber auf Eure Solidarität angewiesen, weil wir ein Haus wie die Casa Comunal nicht aus eigenen Kräften finanzieren könnten.«

Wir freuen uns, mit unserer Spende und unserer Anwesenheit in Esquipulas diese Arbeit ein Stück vorangebracht zu haben.

»Der Staat sind wir!« - viel bewegt sich bei den sozialen Bewegungen

Nach einem herrlichen Wochenende am Pazifik folgte der zweite Teil unserer Reise: ein Gesprächsprogramm mit unseren Partnerorganisationen in Managua.

Wir besuchten u.a. Menschenrechts- und Frauenorganisationen, ein Sozialforschungsinstitut und eine Radiostation, Studierenden- und GewerkschaftsvertreterInnen sowie das Verbraucherschutznetzwerk und eine katholische Organisation zur Betreuung von MigrantInnen. Neben allgemeinen Einschätzungen und speziellen Fragen zu ihrer jeweiligen Arbeit nutzten wir die Gespräche, um unsere Leitfrage zu stellen: »Wie haltet ihr´s mit dem Staat?« Die Tendenz war eindeutig: Auch wenn der Staat heute in Nicaragua nach 16 Jahren Neoliberalismus und korrupten Regierungen ein trauriges Bild abgibt - hier liegt für die Organisationen die Perspektive: »Wir brauchen nicht weniger Staat, wie die neoliberalen Privatisierer fordern, sondern einen starken Staat, und zwar einen, der von unten kontrolliert wird. Diese Kontrolle kann nur von einer gut organisierten, politisch gebildeten Bevölkerung ausgehen, die ihre Interessen zu vertreten weiß«, so William Rodriguez, ein Sprecher im Sozialforschungsinstitut CEI.

»Die sozialen Bewegungen in Nicaragua sind gerade dabei sich zu entwickeln. Vieles wurde lange Zeit durch die Hegemonie der FSLN blockiert, aber jetzt beginnen die Organisationen wie Lehrer- und Gesundheitsgewerkschaft, sich zu emanzipieren. Und die neuen Auseinandersetzungen zur Rückverstaatlichung der Stromversorgung sind ganz unabhängig von der frente entstanden«, sagt William Grigsby, Redakteur des unabhängigen Radiosenders La Primerísima.

Bei einer Kundgebung vor dem Nationalparlament hatten wir dann auch Gelegenheit, diese Auseinandersetzungen aus der Nähe kennen zu lernen. Ricardo Osejo vom Verbraucherschutznetzwerk RNDC: »Keine der Regierungen der letzten Jahre war an der Bevölkerung interessiert. Sie handeln nur, wenn sie unter Druck gesetzt werden.« Immerhin: der Prozess zur Rückverstaatlichung der Stromversorgung ist bereits im Gange, und die Direktorin des RNDC vertritt die Seite der KonsumentInnen in dem hierfür eingerichteten Schiedsgericht.

Würde es tatsächlich dazu kommen, wäre das kein geringer Schritt in einem Land wie Nicaragua, dessen Ökonomie maßgeblich von den Anweisungen des Internationalen Währungsfonds bestimmt wird, der grundsätzlich auf Privatisierungen der Staatsbetriebe drängt. Und hierin liegt auch der Zweifel vieler BrigadistInnen: Wie viel bringt es den NicaraguanerInnen, ihren Staat von unten zu kontrollieren, wenn dieser aufgrund internationaler Verpflichtungen eigentlich kaum Handlungsspielraum hat? Hat der Staat wirklich Einfluss auf die Ursachen dafür, dass 70% der Nicas in Armut leben? - Eine Frage, die sich auch angesichts des Wahlsiegs der FSLN im November stellt. Die Einschätzungen, welche Politik Daniel Ortegas Partei verwirklichen wird, liegen allerdings weit auseinander: zwischen der Hoffnung auf Maßnahmen zugunsten der marginalisierten Bevölkerung und Furcht vor einer korrupten und autoritären Partei-Oligarchie variieren die Prognosen. Die Forderung nach »Kontrolle von unten« dürfte durch Ortegas Wahlsieg nichts an Aktualität eingebüßt haben.

Mit den Organisationen, die daran arbeiten, ist das Ökumenische Büro nach wie vor solidarisch.

Warum Brigadearbeit?

Mit den Solidaritätsbrigaden verfolgt das Ökumenische Büro verschiedene Ziele: Von den TeilnehmerInnen sollen direkte Erfahrungen zum Verhältnis zwischen »Erster« und »Dritter« Welt gemacht, weltpolitische Zusammenhänge erkannt und ein Austausch ermöglicht werden. Die Auswirkungen der ungerechten Weltwirtschaftsordnung und einer Wirtschafts- und Sozialpolitik, die die Interessen der armen Bevölkerungsmehrheit unberücksichtigt lässt, werden den TeilnehmerInnen unmittelbar vor Augen geführt. Im direkten Austausch mit den Menschen vor Ort erfahren sie auch, wie Menschen in der »Dritten Welt« globale Zusammenhänge einschätzen und was sie benötigen, um ihre Situation zu verbessern. Sie sehen, dass die Menschen in der »Dritten Welt« ihre Situation nicht passiv erdulden, sondern nach immer neuen Möglichkeiten suchen, ihre Lebenssituation zu verändern, sich zu organisieren und Zukunftsperspektiven zu entwickeln. Sie lernen Menschen kennen, die nicht Objekte von »Entwicklungshilfe« sind, sondern würdig und selbstbewusst für ihre Interessen eintreten.

Dass diese Ziele erreicht wurden, dafür sprechen nicht nur die positiven Rückmeldungen unserer Partnerorganisationen und der Menschen, die wir in Nicaragua kennen gelernt haben. Auch nach der Brigade arbeitet die Gruppe gemeinsam weiter an der Aufbereitung ihrer Erfahrungen: Es wurden bereits Artikel für Zeitschriften verfasst, und ein Beitrag zur Präsentation an Schulen ist in Arbeit.

Diese Erfahrungen ermutigen uns, unsere Brigadearbeit, nach wie vor ein Herzstück der Arbeit des Öku-Büros, intensiv weiter zu verfolgen. Für 2008 planen wir, die Brigade von einem Filmteam porträtieren zu lassen. Und das Schwerpunktthema für die Resi-Huber-Brigade 2007 nach El Salvador steht bereits fest: »Entwicklungshilfe«.


 

(as)
Brigade 2006
Erschienen im Jahresbericht 2006 des Ökumeninschen Büros
München
Dezember 2006

Zurück