Jahresbericht 2006:

2006 - ein Wahljahr in Nicaragua

Das alles dominierende Thema dieses Jahres in Nicaragua waren die Präsidentschaftswahlen im November.

Regierungspolitik auf Sparflamme

Nach den erbitterten Auseinandersetzungen zwischen Nationalversammlung und der Exekutive in den Jahren 2004 und 2005 war die Regierung Bolaños heuer nicht mehr fähig, politische Akzente zu setzen. Ende November des Jahres 2004 hatte die Nationalversammlung mit den Stimmen von FSLN und PLC eine Reihe von Verfassungsänderungen beschlossen, die den Präsidenten drastisch in seinen Rechten beschnitten. So wurde z. B. das Recht, Minister zu bestellen und zu entlassen, vom Präsidenten aufs Parlament übertragen. Die von FSLN und PLC verabschiedeten Verfassungsänderungen sind eindeutig Ergebnisse des Paktes zwischen Daniel Ortega und Arnoldo Alemán. Gegen diesen Machtverlust hatte sich Bolaños zwar wehren können, aber nur einen mageren Kompromiss erreicht. Die von der Nationalversammlung verabschiedeten Verfassungsänderungen kommen vorerst nicht zur Ausführung und wurden bis nach Ende der Amtszeit von Bolaños, Anfang 2007, eingefroren. Damit hatte die Regierung anscheinend ihre Kräfte völlig erschöpft. Bei den großen sozialen Konflikten des Jahres 2006 (Streiks im Gesundheitswesen, Streiks im Busverkehr, Krise in der Elektrizitätsversorgung) spielte die Regierung Bolaños praktisch keine Rolle mehr. Zu mehr als ein paar zaghaften Versuchen, die schlimmsten Krisen zu entschärfen, reichte es nicht. Man hatte den Eindruck, die Regierung war damit ausgelastet, sich über die Zeit zu retten.

Wenn im vergangenen Jahr in Nicaragua Politik gemacht wurde, dann ging es um die Präsidentschaftswahlen im November und ihre möglichen Folgen, d. h. die politischen Kräfte positionierten sich für die Zeit nach Bolaños.

Wahlen 2006: Erstmals vier realistische Optionen

Bei den Wahlen im November wurden die WählerInnen erstmalig in den letzten 20 Jahren nicht nur vor die Frage gestellt: für oder gegen den Sandinismus. Die beiden traditionellen politischen Blöcke Nicaraguas traten nicht geschlossen auf. Sowohl die Rechte, die in Nicaragua im Namen des Liberalismus antritt, als auch die linken Sandinisten hatten sich gespalten. In beiden Lagern bewarben sich zwei Parteien um die Gunst der WählerInnen. Bei den Rechten war dies wie bisher die PLC, die Partei Arnoldo Alemáns, mit dem Präsidentschaftskandidaten José Rizo. Die PLC steht weiterhin treu zu ihrem Ehrenvorsitzenden Arnoldo Alemán und lässt sich von seiner Verurteilung zu 20 Jahren Haft wegen Geldwäsche und Korruption nicht beirren. Sogar, dass ihr Idol Alemán inzwischen bei seinen ehemaligen Gönnern, den USA, in Ungnade gefallen ist, lässt sie unbeeindruckt. Die zweite liberale Gruppierung ALN hatte Eduardo Montealegre, den Bankier und ehemaligen Finanzminister, als Präsidentschaftskandidaten aufgestellt. Sie hatte sich wegen Arnoldo Alemán von der PLC abgespalten, wird von den USA unterstützt und steht für die Fortführung der neoliberalen Politik Bolaños´.

Doch auch die Linke sammelte sich nicht mehr geschlossen hinter Daniel Ortega. Die FSLN ist nicht mehr das, was sie noch nach dem Sieg der Revolution war. In den letzten 16 Jahren, hat Ortega sie konsequent in einen politischen Apparat umgewandelt, der ausschließlich seine Rückkehr an die Macht verfolgt. Viele haben inzwischen die FSLN verlassen. Vor allem Intellektuelle, Feministinnen, die TrägerInnen der Aufbruchstimmung der 80er Jahre nach dem Sieg der Revolution, sind nicht mehr in der Partei. Dieser Wählerschicht bot sich Herty Lewites, der populäre ehemalige sandinistische Bürgermeister von Managua als Alternative an. Er hatte versucht, in der FSLN sich um die Präsidentschaftskandidatur zu bewerben, hatte sich damit offen den Ambitionen Daniel Ortegas in den Weg gestellt und war daraufhin kurzerhand aus der FSLN ausgeschlossen worden. Bis zum Sommer war es ihm gelungen, eine Allianz kleinerer Parteien hinter sich zu scharen und bei Meinungsumfragen hohe Zustimmung zu erlangen. Durch seinen unerwarteten Tod im Juli - er starb an Herzversagen - wurden die politischen Möglichkeiten noch einmal umgruppiert. Die MRS, die Partei, die Herty Lewites aufgestellt hatte, wählte den relativ unbekannten Wirtschaftsfachmann Edmundo Jarquín zum Präsidentschaftskandidaten.

Die Wahlen am 5.November wurden letztendlich zu einem persönlichen Triumph für Daniel Ortega. Nach den Wahlen von 1984 wurde er 22 Jahre später zum zweiten Mal zum Präsidenten gewählt. Aber die FSLN hat nicht gewonnen, weil sie stärker geworden ist, sondern sie hat nur gewinnen können, weil die beiden liberalen Kandidaten sich gegenseitig blockierten. Mit dem Ergebnis von 38 Prozent erreichte Ortega einen ähnlichen Prozentsatz wie bei den vergangenen drei Wahlen, wo er jeweils gegen eineN gemeinsameN PräsidentschaftskandidatIn der Rechten klar verloren hatte. Das gleiche Kräfteverhältnis herrscht in der Nationalversammlung, die gleichzeitig gewählt wurde. Auch hier ist die FSLN mit 38 von 92 Sitzen von einer Mehrheit weit entfernt.

Nicht nur diese Ergebnisse sondern auch die Art und Weise, wie sie zustande gekommen sind, lassen Hoffnungen auf einen radikalen Politikwechsel, weg vom neoliberalen Modell hin zu mehr Verteilungsgerechtigkeit unwahrscheinlich erscheinen.

»Programm der Regierung der Versöhnung und der nationalen Einheit« - unter diesem Titel veröffentlichte die Frente ihr Wahlprogramm. Die Idee der Versöhnung stand auch angeblich hinter der Nominierung des ehemaligen Contra-Führers Jaime Morales Carazo zum Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten an der Seite von Daniel Ortega. Ortega versuchte eindeutig sich programmatisch der konservativen Mehrheit der Bevölkerung zu nähern und in diesem Sektor Stimmen zu gewinnen. Er umwarb diejenigen, die in den 1980er Jahren mit der Contra sympathisiert hatten und besonders die WählerInnen im christlichen Spektrum. Wie die Reform des Abtreibungsgesetzes kurz vor dem Wahltag zeigt, hatte die FSLN dabei keinerlei Hemmungen. Seit über 100 Jahren hatte Nicaragua zu den 98 Prozent der UNO-Mitgliedstaaten gehört, die therapeutische Abtreibung (Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation) nicht unter Strafe stellen. Im Wahlkampf Ortegas, der nur von Versöhnung, Glaube und Liebe handelte, erkannte die Kirche die Gunst der Stunde: Anfang Oktober rief sie ihre AnhängerInnen zu einer Massendemonstration für die Verschärfung des Strafgesetzes gegen die Abtreibung auf. Sie forderte das Ende der Straffreiheit für den Schwangerschaftsabbruch aus medizinischen Gründen. Die DemonstrantInnen zogen zur Nationalversammlung, gaben ihre Petition beim Parlamentsvorsitzenden ab und im Eilverfahren wurde das seit über 100 Jahren gültige Gesetz wunschgemäß noch vor dem Wahltag abgeändert. Alle anwesenden Abgeordneten der FSLN stimmten dafür. Neben den Mehrheitsverhältnissen in der Nationalversammlung machen diese Wahlkampferfahrungen keine Hoffnung auf eine linke Politik unter einem sandinistischen Präsidenten. Die Regierung Ortega braucht für ihre Politik Stimmen aus dem Lager der beiden liberalen Parteien, um zu einer Mehrheit in der Nationalversammlung zu kommen. Wirkliche Armutsbekämpfung, Förderung der Kleinbauern und -bäuerinnen und der kleinen Unternehmen ist mit der neoliberalen ALN nicht zu machen. Mit der PLC hingegen ist wahrscheinlich wesentlich mehr zu erreichen, da diese Partei praktisch nur ein politisches Ziel hat: die Rehabilitierung Arnoldo Alemáns.

Bisher kann man nur spekulieren, denn die Regierung Ortega wird erst Anfang Januar 2007 ins Amt eingeführt werden. Aber die bisherigen Signale, die Ortega ausgesendet hat, sind zwiespältig. Eine neue Weichenstellung in der Wirtschaftspolitik wird es nicht geben. Die Verhandlungen mit dem IWF werden fortgeführt werden, das Freihandelsabkommen CAFTA mit den USA bleibt unverändert und die Auslandsinvestitionen, die vorwiegend in die Billiglohnindustrie der Freien Produktionszonen (Maquiladoras) geht, werden weiter gefördert. Änderungen gibt es sicher in der Außenpolitik, vor allem gegenüber den lateinamerikanischen Staaten. Hier hat Ortega schon jetzt deutlich gemacht, dass die Zusammenarbeit mit Venezuela und Kuba enger werden soll. Auch wird er wohl versuchen, die Wirtschaftsbeziehungen zu China zu verbessern und nicht, wie die vorherigen Regierungen, nur auf Taiwan zu setzen.

Kontinuität bei Megaprojekten

Im letzten halben Jahr vor dem Wahltermin hatte die Regierung Bolaños noch zwei Großprojekte angestoßen, über die schon seit vielen Jahren in Nicaragua kontrovers diskutiert worden ist. Seit Ende Juni ist bekannt, dass die Regierung wieder intensiver das Projekt COPALAR verfolgt, den Bau eines Staudamms in Bocana de Paiwas im geographischen Zentrum des Landes. Es geht um eine Investition von 1 Milliarde US-$. Aufgestaut werden soll der Rio Grande de Matagalpa mit einer Mauer von 135 m Höhe. Das Projekt soll zur Überflutung der Hälfte der Gemeinde Bocana de Paiwas und zur Umsiedlung von 25 000 Menschen führen. Neben dem Damm Bocana de Paiwas sollen flussabwärts noch zwei kleinere entstehen. COPALAR existierte als Idee schon seit der Zeit Somozas. Das Projekt mit allen drei Staudämmen soll 980 Megawatt erzeugen und Nicaragua in den Stand versetzen, elektrische Energie zu exportieren. Dies würde geschehen mittels des zentralamerikanischen Stromnetzes SIEPAC (Sistema de Interconexión Eléctrica de los Países de América Central). SIEPAC ist ein Teil des Plan Puebla Panamá und wird von der Interamerikanischen Entwicklungsbank gefördert.

Anfang Oktober gab die Regierung dann bekannt, dass ein weiteres Großprojekt, der Nicaragua-Kanal (Gran Canal Interoceánico), verwirklicht werden soll. Ein Projekt mit gewaltigen Dimensionen, mit einer voraussichtlichen Bauzeit von 12 Jahren und einem Investitionsvolumen von rund 18 Milliarden US-$ und bisher völlig ungeklärten Umweltkonsequenzen. Der 286 km lange Nicaragua-Kanal soll Schiffen mit einer Frachtkapazität von bis zu 250.000 Tonnen die Durchfahrt ermöglichen, das ist fast die doppelte Kapazität, die der Panamakanal nach seiner Erweiterung bekommen soll.

Beide Projekte werden von der betroffenen Bevölkerung und von Basisorganisationen, die sie unterstützen und neben den sozialen Konsequenzen vor allem gewaltige Umweltschäden befürchten, vehement abgelehnt. Aber beiden Projekten steht die FSLN wohlwollend gegenüber. Das Projekt COPALAR, das im Augenblick im entsprechenden Ausschuss der Nationalversammlung diskutiert wird, erfreut sich der besonderen Unterstützung des einflussreichen FSLN-Abgeordneten Bayardo Arce. Er greift die kritischen Basisorganisationen scharf an. Daniel Ortega hat sich sehr positiv zu dem geplanten Nicaragua-Kanal geäußert, für dessen Bau er auf chinesisches Kapital hofft. Es ist sicherlich verfrüht, auf Grund dieser einzelnen Meinungsäußerungen ein Urteil zu fällen, aber wenn diese Beispiele sich als typisch herausstellen sollten, dann wird es schwer werden, die Regierung Ortega von ihren Vorgängerinnen zu unterscheiden.

Selbstbewusste Bevölkerung

Wichtiger als der Wechsel der Regierung ist vielleicht das gesteigerte Interesse an politischen Belangen in der Bevölkerung, die sich in der hohen Wahlbeteiligung gerade bei jungen WählerInnen widerspiegelt. Für Maria López Vigil, Herausgeberin der politischen Analysezeitschrift envío, liegt hier der Schlüssel zu weiterreichenden Veränderungen: »Die Suche nach einem guten patron ist bei uns kulturell verankert. ‚Erzähl mir, dass du mich liebst, auch wenn´s gelogen ist!', rufen die Leute. Sie hoffen darauf, von einem Retter aus ihrer Not herausgeführt zu werden. - Unsere Arbeit als Intellektuelle besteht darin, politische Bildung zu vermitteln und den Gedanken zu stärken, dass nur eine selbstbewusste und gut informierte Bevölkerung zur Verbesserung ihrer eigenen Situation beitragen kann.« William Rodriguez vom Sozialforschungsinstitut CEI (Centro de Estudios Internacionales) geht noch weiter. »Der Pakt von FSLN und PLC war nur möglich durch die Schwäche der sozialen Bewegungen. Was wir brauchen, ist ein dritter Akteur neben der Regierung und den Parteien, und das ist die organisierte Bevölkerung. Die Demokratie in Nicaragua ist jung, man kann nicht alles auf einmal verlangen. Viele der sozialen Organisationen, wie die Gewerkschaften der LehrerInnen und Gesundheitsangestellten, sind Kinder der Revolution und haben sich lange an die Weisungen der FSLN gehalten. Sie sind aber dabei, erwachsen und damit unabhängige Interessenvertretungen ihrer Mitglieder zu werden.«

In dieser Richtung aktiv ist auch das nationale Verbraucherschutznetzwerk RNDC, das mit durchdachter Informations- und Mobilisierungsarbeit die Proteste gegen den spanischen Stromverteilungskonzern Union Fenosa koordiniert. Seit Monaten kommt es in Managua zu Demonstrationen gegen den Konzern, der immer wieder für lange Stromausfälle und Preiserhöhungen verantwortlich ist. Das Netzwerk versteht es, militante Protestaktionen auf der Straße mit konkreten Vorschlägen an die Parlamentsabgeordneten zu verbinden. Die Diskussion um eine Rückverstaatlichung ist in vollem Gange. Der Journalist William Grigsby sieht hierin einen qualitativen Sprung für die sozialen Bewegungen in Nicaragua, weil hier ohne Zutun der FSLN ein erfolgreicher Kampf geführt wird.

Auch der Koordinator der ehemals sandinistischen NRO Movimiento Comunal de Matagalpa sieht in dieser Strategie die Aufgabe seiner Organisation: »Wenn wir heute in Nicaragua etwas verändern wollen, geht das nur, indem wir Bewusstsein, politische Bildung und Organisierungsfähigkeit der Bevölkerung stärken, und zwar unabhängig von Parteien, orientiert an Inhalten. Die Menschen können sich nur selbst retten.«

Diese Ansätze halten wir in der derzeitigen Situation in Nicaragua für konsequent und mutig und werden deshalb die Arbeit der genannten Organisationen auch weiterhin unterstützen.


 

(as)
2006 - ein Wahljahr in Nicaragua
Erschienen im Jahresbericht 2006 des Ökumeninschen Büros
München
Dezember 2006

Zurück