Jahresbericht 2006:

Demokratischer Wandel und Rückkehr der Repression - ein stürmisches Jahr in Mexiko

Als am 1. Dezember in Mexiko Vicente Fox das Amt des Präsidenten an Felipe Calderon weiterreichte, ist der sogenannte »Sexeno del Cambio« (die Legislaturperiode des Wechsels) zu Ende gegangen. Diesen Namen hatte die Legislaturperiode bekommen, weil viele Menschen nach der mehr als 70-jährigen Herrschaft der PRI die Hoffnung hatten, dass der Kandidat der PAN, Fox, einen Wandel einleiten würde. Kaum einem Präsidenten in der Geschichte Mexikos haben die BürgerInnen so viel Vertrauen entgegengebracht - und kaum einer hat es so verspielt.

Dass die Regierung Fox unter einer demokratischen Imagepflege die neoliberale, eliteorientierte Politik ihrer Vorgängerin fortsetzte, machte sich in vielen Bereichen des politischen Lebens bemerkbar. So wurden zahlreiche Sonderanwaltschaften ins Leben gerufen, etwa die zu den Frauenmorden, oder die zu den sogenannten »Delikten der Vergangenheit«. Keine dieser Institutionen hat ihre Aufgaben erfüllt.

Die Straflosigkeit ist weiterhin ein Merkmal des Justizsystems in Mexiko. Die Frauenmorde bleiben zumeist unbestraft - Stattdessen breitet sich dieses Phänomen, das ursprünglich überwiegend im Norden zu beobachten war, auf andere Regionen des Landes aus. Grund genug für das Ökumenische Büro, in Zusammenarbeit mit unseren mexikanischen Partnern unsere Aktivitäten in diesem Bereich auszubauen.

Menschenrechtsverletzungen durch die Polizei der mexikanischen Bundesregierung Mexiko

2006 hat sich die Lage der Menschenrechte sichtbar verschlechtert. Ein besonderes Merkmal war die Unfähigkeit oder der fehlende Willen der Behörden auf kommunaler sowie Länder- und Bundesebene, die zahlreichen Konflikte durch politischen Dialog zu lösen. Unserem Eindruck nach wurden die Konflikte ignoriert, bis die Anwendung von Gewalt und Repression die einzige Lösung schien. Es ist spürbar, wie die Interessen von Regierung und Bevölkerung immer mehr auseinander klaffen. In anderen Worten: In Mexiko wird zugunsten einer privilegierten Minderheit regiert, und solange dies der Modus Operandi der PolitikerInnen ist, werden sich immer mehr Teile der Bevölkerung dagegen wehren.

Im April hat die Policía Federal Preventiva (PFP) die Stahlhütte in Lázaro Cárdenas in Michoacán gestürmt, die von den Arbeitern besetzt war. Zwei Streikende wurden von der Polizei erschossen.

Am 3. und 4. Mai haben verschiedene Einheiten der Polizei des Bundesstaats México und die Bundespolizei PFP im Einklang mit der Mehrheit der mexikanischen Medien eine seit langem beispiellose Aktion gegen Mitglieder der Frente de Pueblos en Defensa de la Tierra (FPDT) durchgeführt: Die Stürmung der Gemeinde San Salvador Atenco erinnerte an die schlimmsten Tage der PRI-Regierung. Besonders grausame Ausschreitungen gab es gegen Frauen: Die Polizei hat die weiblichen Festgenommen systematisch sexuell misshandelt. Es handelte sich hier nicht etwa um einen Teil der Repressionsmaschinerie, der außer Kontrolle geraten war: Dass dieses Vorgehen gezielt geplant war, beweist die Tatsache, dass die Polizisten Kondome mit sich trugen.

Einerseits ging es bei dieser Aktion um einen Vergeltungsakt gegen die FPDT wegen ihres Widerstands gegen den Bau eines Flughafens auf ihren kommunalen Ländereien, andererseits diente die Tat als exemplarische Maßnahme zur Mahnung an alle, die es wagten, sich gegen Beschlüsse der Regierung zu stellen.

Ein weiteres Merkmal dieser Aufstandsbekämpfungsmaßnahme ist, dass sie im Namen des Rechtsstaats geführt wurde. Die Menschen, die bei dieser kombinierten Aktion der Repressionskräfte festgenommen wurden, bekamen jedoch keinen gerechten Prozess. Sie wurden von den Behörden und den großen Medien als hemmungslose Gewalttäter dargestellt. Der Staat zeigte keinen Hauch von Reue an diesen Akten, sondern versuchte, die kriminelle Handlung der Polizei zu verschleiern. Als am 3. Mai ein Kind durch eine Polizeikugel ermordet wurde, erklärten Medien und offizielle Statements, es sei durch die Explosion eines Knallers der DemonstrantInnen getötet worden. Auch zu den Fällen der Vergewaltigung und Belästigung gegen die festgenommenen Frauen äußerten die Behörden, dass solche Handlungen Folge des Stresses der Polizisten seien und keine bösen Absichten beinhalteten.

Einige konkrete Daten über die sog. »operativo Rescate« in San Salvador Atenco:

  • zwei Tote
  • 218 Festgenommene, davon 47 Frauen
  • fünf ausgewiesene AusländerInnen
  • 34 Frauen beklagten Sexualbelästigungen durch Sicherheitskräfte
  • 196 Menschen haben noch offene Prozesse
  • Derzeit sind noch 30 Menschen inhaftiert
Das Ökumenische Büro reagierte auf die Vorfälle mit Informationsveranstaltungen und bundesweit koordinierten Eilbriefaktionen.

Auch in Oaxaca scheitert die demokratische Konfliktbewältigung

In der Intensität und Quantität der Menschenrechtsverletzungen noch gravierender und aus politischer Sicht noch destruktiver war die Reaktion der PAN-Regierung auf den Konflikt im südlichen Bundesstaat Oaxaca. Der dortige Gouverneur Ulises Ruiz Ortiz hatte gewaltsame Repression, willkürliche Inhaftierung seiner GegnerInnen und fehlende Dialogbereitschaft zum Regierungsstil erhoben. Die Korruptions- und Vetternwirtschaftsvorwürfe häuften sich. Immer größere Teile der Zivilgesellschaft organisierten sich und forderten einen Politikwechsel in Oaxaca. Im Mai stellten die LehrerInnen ihre Forderung nach besseren Arbeitsbedingungen und auch nach besseren Bedingungen für die SchülerInnen, wie Essen oder Schuhe. Wie gewohnt entschied sich Ruiz Ortiz für den Weg der Repression statt für den des Dialogs. Der Protest der LehrerInnen war jedoch nur ein Anfang: Was die oaxacanische Zivilgesellschaft forderte, war mehr Demokratie, Respekt für ihre multiethnische Kultur und dass ihre Rechte anerkannt werden.

Der Prozess, der sich daraus entwickelte, bekam weltweite Aufmerksamkeit. Die Bevölkerung von Oaxaca entwickelte beispielhafte basisorganisierte Strukturen, die sich in der APPO (Volksversammlung der Völker von Oaxaca) artikulierten. Die Landes- und Bundesregierung nahmen den Dialog nicht ernst: Während VertreterInnen der APPO mit dem Innenministerium am Verhandlungstisch saßen, ermordeten Paramilitäreinheiten soziale AktivistInnen, nahmen sie als Geiseln oder ließen sie verschwinden. Unterdessen wurde die Intervention von Repressionskräften des Bundes vorbereitet. Am 25. Oktober begann die PFP mit der Besetzung von Oaxaca Stadt. Seitdem führten oaxacanische Polizei und PFP Hunderte Verhaftungen von AktivistInnen der APPO und weiteren unbeteiligten Personen durch. Auch der frühere ehrenamtliche Mitarbeiter des Öku-Büros, Felipe Sanchez, wurde als Zuschauer am Rande einer Demonstration festgenommen und mit weiteren 140 Personen in ein Sicherheitsgefängnis im Bundestaat Nayarit gebracht, das mehr als 1200 km von Oaxaca entfernt liegt. Wir bitten in diesem Zusammenhang um die Unterstützung einer Eilbriefaktion zur Freilassung von Herrn Sanchez und um Spenden für dessen anwaltlichen Rechtsbeistand.

Felipe Calderon, der neue Präsident Mexikos, scheint dieselbe Politikrichtung für Oaxaca eingeschlagen zu haben wie Vicente Fox. Einige Tage nach seinem Amtsantritt ließ er in Mexiko Stadt einige der SprecherInnen der APPO festnehmen, die sich für ein Treffen im Innenministerium in der Hauptstadt aufhielten.

Unterdessen waren AktivistInnen der »Anderen Kampagne« der zapatistischen EZLN in ganz Mexiko unterwegs, um durch den Austausch mit der Zivilgesellschaft einen ganz anderen Politikansatz voranzubringen: Die Einigung und Organisierung der vielfältigen Widerstandsbewegungen in Mexiko zu einer starken, außerparlamentarischen Kraft von unten.

Mit dem Beginn der Amtszeit von Felipe Calderon zeichnet sich in Mexiko eine zunehmende Polarisierung ab: Die neoliberale Politik der letzten Jahrzehnte hat geradezu systematisch Arbeitslosigkeit und Armut erzeugt, was wiederum zu einer Verbreiterung der Organisierung und Radikalisierung der Bevölkerung führte. Weitere Menschenrechtsverletzungen sind zu befürchten. Wir werden unsere Partnerorganisationen weiterhin im Rahmen unserer Möglichkeiten unterstützen, indem wir hierzulande über ihre Arbeit berichten und in Kooperation mit weiteren Organisationen Solidaritätsarbeit leisten.


 

(dt)
Demokratischer Wandel und Rückkehr der Repression - ein stürmisches Jahr in Mexiko
Erschienen im Jahresbericht 2006 des Ökumeninschen Büros
München
Dezember 2006

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