Thesen des Öku-Büros zur Nicaraguadebatte

Als Ökumenisches Büro blicken wir auf eine lange Geschichte der Solidarität mit Nicaragua zurück. Insofern haben auch wir den Konflikt, der 2018 seinen gewalttätigen Höhepunkt hatte, intensiv verfolgt. Nach und nach sind wir zu der Überzeugung gekommen, dass die Situation dort so komplex ist dass wir weder einseitige Schuldzuweisungen, noch das Unterstützen der einen oder der anderen Seite in diesem Konflikt für zielführend halten. Diese Position wurde von außen zum Teil missinterpretiert.
Aus diesem Grund haben wir uns nach intensiven Diskussionen entschieden, unsere Gedanken in der Form der folgenden Thesen der Öffentlichkeit zur präsentieren. Wir hoffen, dass es uns damit gelingt, die Debatte um Nicaragua zu bereichern.

Unsere Einschätzung der Situation in Nicaragua (Stand Herbst 2020)

These 1
Der real existierende Sandinismus hat sich schon lange vor dem April 2018 in eine autoritäre Regierungsform verwandelt, die nicht als Referenzmodell bzw. als Vorbild für unsere emanzipatorische Kämpfe hierzulande und weltweit dienen kann.
Die Tatsache, dass im Zuge der Niederschlagung der Proteste im Jahre 2018 unbewaffnete Menschen getötet und Gefangene gefoltert wurden, unterstreicht diese Tendenzen noch einmal in einer sehr erschreckenden Weise.

These 2
Der derzeitige Konflikt in Nicaragua ist nicht nur als eine Auseinandersetzung zwischen einer demokratischen Protestbewegung und einer Diktatur zu verstehen. Stattdessen handelt es sich unserer Einschätzung nach auch um eine Auseinandersetzung unterschiedlicher Machtblöcke in der nicaraguanischen Elite, die von beiden Seiten unter der Anwendung von Desinformation, dem Kaufen der Gefolgschaft und der Anwendung von Gewalt geführt wird.

These 3
Weder die Regierung noch die diversen Oppositionsgruppen zusammengenommen können für sich in Anspruch nehmen, für die Mehrheit der Nicaraguaner*innen zu sprechen.

These 4
Das Oppositionsbündnis der Coalición Nacional (Alianz Cívica por la Justicia y la Democracia, Unidad Nacional Azul y Blanco - UNAB und politische Parteien), ist im Grunde genommen die Reproduktion eines Machtsektors, bei der Vertreter*innen der Wirtschaft, der politischen Rechten, Contra-Anhänger*innen sowie Interessenvertreter*innen der USA den Ton angeben. Zum Teil sind dort genau die Strukturen führend, die wir sonst in unserer alltäglichen Arbeit zu bekämpfen versuchen.

These 5
Die UNAB sowie die Alianza Cívica orientieren sich immer offener an der historischen Oligarchie (Verherrlichung der neoliberalen Galionsfigur Violeta Barrios de Chamorro). Die Folge ist, dass die Handschrift linker Gruppen dort nicht mehr zu erkennen ist.

These 6
Der Putsch in Bolivien und dessen Folgen zeigen, wie gefährlich es sein kann, sich im Windschatten der Rechten an einem Regierungsumsturz zu beteiligen.

These 7
Das Verbot und das Zerschlagen von Organisationen wie dem Menschenrechtszentrum CENIDH müssen verurteilt werden, weil sie demokratische Kommunikationsprozesse in der Gesellschaft verhindern und darüber hinaus auch als eine Drohung gegenüber anderen Organisationen zu verstehen sind, sich nicht allzu kritisch gegenüber der Regierung Ortega zu verhalten.

These 8
Der Staat ist in Nicaragua (wie anderswo auch) verpflichtet, Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Staatliche Kräfte, wie Polizei, parastaatliche Kräfte sowie Anhänger*innen der Regierung haben Menschen getötet. Der nicaraguanische Staat hat u.a. die Verantwortung, diese Todesfälle und Verbrechen aufzuklären und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Kommt der Staat dieser Verantwortung nicht nach, macht er sich weiter schuldig.

These 9
Die Gewalt, die von Teilen der Protestbewegung ausging, war keine vernachlässigbare Randerscheinung, sondern eine der Ursachen für die Eskalation der Krise. Als emanzipatorische Zivilgesellschaft sollte uns auch daran gelegen sein, die Verbrechen, die mit Billigung der Opposition verübt wurden, sichtbar zu machen, sowie deren Opfern Gehör zu verschaffen.

Für die politische Zukunft Nicaraguas

These 10
Eine politische Zukunft kann nicht mit der Straflosigkeit gelingen. Alle Verbrechen des Jahres 2018 müssen aufgeklärt werden.

These 11
Die von beiden Machtgruppen betriebene politische Polarisierung muss aufhören, nur ein wirklicher politischer Dialog kann das Land aus der Krise führen. Hier sollten wir versuchen, unsere Unterstützung anzubieten und nicht die Polarisierung bei uns reproduzieren.

These 12
Ein wichtiges Ziel eines wirklichen politischen Dialogs in Nicaragua ist unserer Meinung nach, gemeinsam den Rahmen für einen transparenten Wahlprozess zu schaffen, dessen Ergebnisse von allen Wähler*innen anerkannt werden können.

Allgemeine Thesen

These 13
In einem emanzipatorischen Diskurs ist es wichtig, linke bzw. progressive Regierungen zu kritisieren. Wichtig ist es jedoch auch, einen kritischen Diskurs gegenüber Protestbewegungen bzw. Organisationen führen zu können, auch wenn wir uns mit deren Ziele (zum Teil) identifizieren.

These 14
Internationale Solidarität sollte das „do not harm“ Prinzip ernst nehmen. Insofern sollten wir Sanktionen, bzw. der Forderung nach Sanktionen, welche die Lebensgrundlage der betroffenen Bevölkerung beeinträchtigt, eine klare Absage erteilen und als Angriff auf die Menschenrechte verurteilen.

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