„Die Menschheit braucht stets lange, um die Niedertracht einzugestehen“

Welturaufführung des neuen Stückes von Telón de Arena aus Ciudad Juárez in München

MÜNCHEN (15.Mai 2019 – ökubüro). Am Sonntag, 12. Mai feierte das Stück „A la Orilla del Río“ (Am Ufer des Flusses) der mexikanischen Theatergruppe Telón de Arena Weltpremiere in München. Knapp 50 Zuschauer*innen erlebten eine fulminante Mischung aus fast überwältigender Emotion und beißend scharfer Analyse, die in einem klaren Aufruf zum Handeln kuliminerte. Ab Donnerstag ist das Stück in Berlin und danach in Bremen, Hamburg und Bielefeld zu sehen. Nach Aufführungen in Mexiko und den USA wird hoffentlich 2020 nochmals eine Tournee in Europa folgen, mit Stationen unter anderem in Innsbruck, Salzburg und Wien. Andrea Lammers vom Ökubüro München, das Telón der Arena zum vierten Mal nach Deutschland eingeladen hatte, sprach zwei Tage nach der Uraufführung mit Perla de la Rosa, der Autorin und Regisseurin von „A la Orilla del Río“.

Perla, kannst Du uns kurz beschreiben, wie die Idee für das Stück entstanden ist? Was war der inhaltliche Kern und wie hat der sich dann weiterentwickelt?

Meine große Motivation war eine Erfahrung, die ich vor zwei Jahren gemacht habe. Da ging es um eine Aktion einer Organisation, die an der Grenze zwischen Mexiko und den USA zum Thema Migration arbeitet. Sie heißt „Umarmungen statt Mauern“. Als die Initiative von Donald Trump hochkochte, diese gigantische Mauer auf der ganzen Länge der Grenze zu Mexiko hochzuziehen, organisierten sie eine humanitäre Aktion, damit deportierte Migrant*innen sich mit ihren Familienmitgliedern treffen konnten. Ich war bei so einem Treffen dabei und es hat mich sehr berührt, dass Personen, die sich zehn Jahre lang - manche sogar bis zu 30 Jahre lang - nicht berühren, die sich nicht umarmen konnten, dass diese Menschen sich nun in mitten des Flussbettes an der Grenze durch diese humanitäre Aktion wiederfanden.

Das hat mich so berührt, dass ich anfing darüber nachzusinnen, welche Geschichten wohl in diesen drei Minuten stecken, die diese Umarmungen dauern. Die Aktion besteht darin, dass sich Familien auf der Seite der USA treffen, in El Paso, Texas und auf der Seite von Mexico, in Ciudad Juárez. Mit einem Pfiff, also einem Signal, können beide bis zur Mitte des Flussbettes gehen und dort zusammen sein – für gerade einmal drei Minuten.

Wer kann an dieser Aktion teilnehmen?

Das organisieren „Umarmungen statt Mauern“ und ihre Unterstützer*innen. Die Familien reisen selbst an. Sie werden über eine website informiert. Da heißt es dann: An diesem und jenem Samstag ist es soweit. Zum Beispiel war jetzt ein Treffen für den 11. Mai geplant. Aber die staatlichen Stellen haben es nicht zugelassen. Die Familien sind gekommen. Sie waren benachrichtigt worden, dass sie sich am Samstag 11. Mai um 9 Uhr früh treffen können. Aber zum ersten Mal war es nicht möglich. Denn die Mauer ist ja schon da. Ihr hört hier vermutlich: Donald Trump will eine Mauer bauen. Aber sie ist längst da. Er will sie nur zu Ende bauen. In meiner Stadt ist die Mauer längst Realität. Vor zwei Jahren war das noch nicht so. Es gab noch keine Mauer Da konnte man den Drahtzaun durchbrechen und durchkommen. Jetzt mit der Mauer geht das nicht mehr. Und es war am Sonnabend unmöglich, dass sie irgendwo aufgemacht hätten. Die Mauer hat ja Türen! Es gab die Hoffnung, dass eine der Türen geöffnet würde und das war nicht der Fall.

Worum geht es bei der Aktion?

Um Deportierte. Der Vater zum Beispiel gelangte vor 30 oder 40 Jahren in die USA, hat aber nie Geld um eine reguläre Aufenthaltsgenehmigung zu beantragen. Aber seine Kinder wurden in den USA geboren – vielleicht wurde auch seine Frau in den USA geboren - jedenfalls sind sie Staatsbürger. Aber ihn schmeißen sie eines Tages raus, sie deportieren ihn und er hat keine Papiere, um in die USA zurückzukehren. Das heißt, die Familien wurden auseinandergerissen. Dazu gehören auch die Dreamers, die mit dem DACA-Programm bleiben durften, aber ihre Eltern wurden ausgewiesen. In diesen drei Minuten können sie sich also umarmen. Natürlich können sie sonst telefonieren oder sie sehen sich vielleicht per Skype. Aber sie können sich nicht berühren.

Diese drei Minuten sind sehr intensiv. Du siehst in der Videoprojektion und in unserem Stück all die Reaktionen, wenn sie sich am Ende berühren. Ich habe zwei Schwestern erlebt, die sich über 40 Jahre lang nicht gesehen hatten.Sie waren noch jung als sie sich zum letzte Mal gesehen haben. Eine von ihnen migrierte und regelte nie ihre Papiere. Warum? Sie war Hausangestellte und konnte nie etwas sparen, sie schickte und schickte alles immer nach Mexiko. Und nun als alte Frauen treffen sie sich wieder. Wir haben das Foto im Stück, da seht ihr die zwei alten Frauen so... wie sie sich umarmen – und sich verabschieden. Denn es sind 40 Jahre vergangen und sie sind fast 80 Jahre alt Wann also werden sie sich wiedersehen? Wohl schwerlich.

Du hast ja schon erwähnt, dass Trumps Mauer in Ciudad Juárez bereits Realität ist. Kannst du uns noch ein bisschen mehr erzählen, wie sich die Situation dort – auch in Bezug auf die Karawanen aus Zentralamerika – in deiner Stadt in den letzten Jahren und Monaten verändert hat?

Die Veränderung besteht darin, dass es immer schwieriger wird, die Grenze zu überwinden und das Leben der Migrant*innen immer mehr in Gefahr ist. Mit diesen Maßnahmen, wie der Mauer. Aber sie hören deswegen nicht auf es zu versuchen. Trump sagt, es gehe um eine Sicherheitsfrage und es gebe viele Leute die sein Land überfluten wollen. Aber in Wirklichkeit sind es gar nicht so viele. Der Migrationsstrom hat auch tatsächlich nachgelassen, weil die Bedingungen dermaßen hart geworden sind. Trotzdem hält die Mauer die Menschen nicht auf. Wir sehen schreckliche Szenen wie Leute, ich weiß nicht wie, die Mauer erklimmen – sogar mit Babys. Du kannst bei uns in den Nachrichten sehen, wie sie hochklettern, dann kommt auf der anderen Seite die Polizei und sie werfen das Baby runter, damit die von der Einwanderungsbehörde sie auffangen. Und dann stürzen sie sich selber runter. Sie springen. Oder sie springen gleich mit dem Baby und landen auf dem Rücken. Wenn sie dann festgenommen werden, haben sie die Möglichkeit einen Asylantrag zu stellen. Also fliehen sie jetzt nicht mehr vor der Polizei, sondern sie liefern sich aus, in dem sie von der Mauer springen. Aber die Mauer ist sehr hoch. Sechs Meter. Und sie springen. Sie verletzen sich, aber sie schaffen zu überleben, weil dort Sand ist. Der Boden ist nicht aus Zement.

Die europäischen Grenzregime sind mindestens so brutal: Die messerscharfen Zäune in Ceuta und Melilla, das Mittelmeer. Mich hat im Stück sehr beeindruckt, wie ihr eine historische Dimension eingebaut habt und wie aktuell diese historische Dimension ist. Die Grenze USA-Mexiko wurde ja 1917 zum ersten Mal geschlossen und wir erfahren, dass an dieser Grenze mexikanische Migrant*innen mit dem Giftgas Zyklon B besprüht wurden. Euer Satz im Stück „Wir haben viel gemeinsam mit euch Deutschen“ hat eine schockierende historische Dimension, aber auch eine ebenso schockierende aktuelle und mittendrin die Ideologie der „supremacía blanca“ „Überlegenheit“ der so genannten „weißen Rasse“. Kannst etwas dazu sagen, wie ihr auf diese Geschichte mit dem Zyklon B gestoßen seid?

Ja, das ist ein Beitrag eines Kollegen, der chicano ist, der also in den USA geboren wurde. Aber seine Großmutter hat genau diese Erfahrung gemacht. Sie war dann Hausangestellte in den USA und hatte das erlebt. Er hat darüber einen Artikel veröffentlicht unter dem Titel „Die Rebellion im Badesaal“ (La rebelión de los baños). Das ist eine wahre Geschichte. Diese 16jährige sagte: Ich werde mich vor niemandem ausziehen! Und mich werdet ihr nicht mit diesem Zeug besprühen!Das war eine richtige Revolte dort an der Grenze. Als wir das gelesen haben, hab ich ihn kontaktiert – er heißt David Romo. Und er sagt mir, dass seine Großmutter das alles erlebt hatte. Da habe ich mich mich erinnert, dass mein Großvater, der als Kind in die Kämpfe der mexikanischen Revolution geraten war, mit 14 Jahren die Grenze zu den USA überquerte, um zu seiner Mutter zu gelangen, und da badeten sie ihn mit Zyklon B und verbrannten ihm die Haut damit. Was ich nicht wusste, aber durch diesen Artikel gelernt habe, ist dass sie dasselbe dann in Deutschland in den Konzentrationslagern verwendet haben. Es war die Chemikalie, die sie in Dosen gefüllt und benutzt haben ,um die Leute umzubringen. An der Grenze wurde es verwendet um Läuse zu vernichten und sie haben damit die Leute verätzt und viel Schaden bei den Menschen aus Mexiko angerichtet. Und das wurde dann perverserweise…

Wir waren überrascht, dass die USA das erfunden haben. Zyklon B ist eine US-Entwicklung. Und als sie merkten, wie effektiv es wirkt, haben die Nazis es gekauft, erst um Läuse zu töten. Aber dann haben sie es in höheren Mengen in den Gaskammern verwendet, den vermeintlichen Desinfektionskammern. Kurioserweise war es 1917 in Ciudad Juárez, an der Santa Fe-Brücke, am dortigen Checkpoint, wo sie auch so genannt wurden: Desinfektionskammern. Wir zeigen im Stück einige Fotos nackter Menschen dort. Das waren keine Juden. Das sind Fotos von Mexikaner*innen, die 1917 dieser Schikane und dieser Chemikalie ausgesetzt wurden.

Wir haben das in unser Stück eingewoben, weil wir diesen historischen Moment präsent haben wollten um zu fragen: Was nun mit dieser Bevölkerung, die stigmaitisiert wird durch Konstruktionen wie Hautfarbe, wie Rasse? Welche Lesart können wir dem heute geben, wo die Neofaschismen hochkommen? Wo diese Idee der „weißen Überlegenheit“ wiederkehrt allerdings war die immer da, es ist also fraglich, ob es wirklich eine Wiederkehr ist. Was zum Holocaust führte, hat ja mit weit weniger radikalen Mittel begonnen. Das war ja eine Aggression, die anwuchs. Ein Schlangenei. Wir meinen also, dass die Attacken gegen Latinos in den USA, gegen Anti-Rassimus-Aktivistinnen, die Beschimpfungen in mexikanischen Restaurants gegen Leute, die kein Englisch sprechen, dass all dies so ein Schlangenei ist. Es geht hier um eine Eskalation der Gewalt, die wir historisch in verschiedenen Weltregionen gesehen haben. Das Schlimmste war der Holocaust während des Zweiten Weltkrieges mit direkter Verantwortung Deutschlands. Aber die Stigmatisierung, die Diskriminierung, die bis zum Genozid führen können, sind historischen in vielen Geografien zu finden. Und das was heute passiert ist keine Ausnahme. Deshalb beenden wir unser Stück mit dem Satz: „Die Menschheit braucht stets lange um die Niedertracht einzugestehen.“

Es ist ein Aufruf von der Theaterbühne aus, dass wir auf eine Reaktion auf diese Maßnahmen, wie die Konstruktion der Mauer, einfordern. Es wird der Anschein erweckt, sie diene der Sicherheit.So verkauft es Trump. Oder es wird so getan, also ob es sich bloß um einen Streit gegensätzlicher Ideen handle. Was nicht gesehen wird, ist das Schwerwiegende: Wohin diese rassistische Gewalt führen kann.

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