"Nicaragua steht vor der Gefahr einer Verschärfung der Gewalt"

Foto: Karina Lange, Solireise 2015

Beide Seiten müssen zurück an den Verhandlungstisch, um die Krise demokratisch und verfassungsgemäß beizulegen, meint der Journalist Giorgio Trucchi
Von Giorgio Trucchi (Interview: Jan Schwab),re:volt

Aus Amerika21.de

Die Situation in Nicaragua ist unverändert explosiv. re:volt-Redakteur Jan Schwab sprach mit dem italienischen Journalisten und Lateinamerikaaktivisten Giorgio Trucchi, der seit Beginn des militanten Aufstands im Land ist und über die Auseinandersetzungen zwischen Opposition und Ortega-Regierung berichtet, über die aktuellen Entwicklungen im mittelamerikanischen Land.

Guten Tag Herr Trucchi. Sie berichten seit Beginn der Krise am 18. April aus dem mittelamerikanischen Land. Wie stellt sich die aktuelle Konfliktsituation aus Ihrer Perspektive dar?

Die Situation hier ist um einiges komplizierter, als sie in den internationalen Medien erscheint. Diese berichten über die politische Situation als spontanem Protest gegen die Reform des Sozialsystems (INSS), der durch die staatliche Repression in einen Volksaufstand umschlug. Man muss aber viel mehr Elemente des Konflikts berücksichtigen, sowohl seitens der Regierung als auch der Opposition. Dieser Konflikt weist zwei zentrale Dimensionen auf: Einmal die Situation im Land, und dann die internationale Konstellation, in der Nicaragua sich befindet.

Sicherlich wiesen die Proteste gegen die Reform des Sozialsystems zu Beginn einen spontanen Charakter auf. Es handelte sich um Proteste, die von den Universitäten ausgingen und die durch militante Gruppen der Regierung, aber auch von den Polizeistreitkräften, mit Gewalt und Repression überzogen wurden. Gegenüber dieser Repression antwortete ein Teil der Protestierenden auf militante Art und Weise. Das war auch der Moment, an dem die Proteste von politischen Strömungen infiltriert wurden, die ein Interesse an der Erhöhung des Konfliktniveaus hatten. Diese Infiltration war insbesondere aufgrund der ungerechtfertigten Brutalität der Polizeieinheiten möglich. Zur selben Zeit startete eine mediale Kampagne, die unter anderem Nachrichten über angebliche Massaker der Polizeikräfte in den sozialen Netzwerken verbreitete. Auch das diente dazu, das Konfliktniveau zu erhöhen. Es gibt keinen Zweifel daran, dass diese Kampagne von zahlreichen Nichtregierungsorganistionen (NGO) betrieben wurde, die von den USA und ihren Stiftungen wie der NED (National Endowment for Democracy), der IRI (International Republican Institute) oder der NDI, finanziert werden.

Diese zwei Momente, die Infiltration der Proteste und die mediale Kampagne erzeugten eine heftige Reaktion in der Bevölkerung Nicaraguas. In den Straßen fanden sich so zunächst nicht nur Anhänger der Opposition oder Studierende, sondern auch Teile der sandinistischen Basis wieder. Letztere protestierten vor allem deshalb mit, weil die Regierung von Präsident Daniel Ortega und Vizepräsidentin Rosario Murillo in den vergangenen Jahren immer autoritärer und vertikaler durchregiert – bei gleichzeitiger Machtkonzentration im Staatsapparat. Das erzeugt auch ein massives Unbehagen in der eigenen Anhängerschaft. Die Zusammensetzung der Proteste in den ersten Tagen war also sehr vielfältig. In der derzeitigen Situation kann man sagen, dass die ursprünglich spontanen Proteste sich über die Einmischung militanter Sektoren in durchweg gewalttätige Proteste gewandelt haben.

Und die internationale Dimension….

Die Situation in Nicaragua weist einige Aspekte auf, die der Krise in Venezuela gleichen und die mit der Rolle der USA im Konflikt zu tun haben. Es ist allerdings nicht das Ziel der USA, Nicaragua an den Rand eines Bürgerkriegs zu manövrieren, weil Nicaragua aufgrund seiner zentralen Position einen hohen strategischen Wert hat. Aufgrund seiner Lage in Mittelamerika ist Nicaragua eine lukrative Basis für das organisierte Verbrechen, wie den Drogenhandel. Eine anhaltende chaotische Situation würde zudem die Migrationswelle aus Nicaragua in die USA intensivieren – ein Szenario, das nicht im Interesse der aktuellen US-Administration ist. Es geht den USA also nicht um eine konstante Destabilisierungssituation in Nicaragua. Aber natürlich versucht die US-Administration, ihren Vorteil aus der politischen Krise zu ziehen, um möglicherweise die Regierung der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) loszuwerden.

Was die internationale Dimension angeht, versuchen sie natürlich auch, die sich in den vergangenen Jahren verstärkende russische Präsenz in Nicaragua zurückzudrängen. Und natürlich auch die chinesische Präsenz, die sich im umstrittenen Interozeanischen Kanalprojekt widerspiegelt. Wir dürfen hierbei zudem nicht vergessen, dass die Regierung Ortega seit Jahren alle Linkregierungen des Kontinents unterstützt hat, in Venezuela, Bolivien, Kuba und so weiter. Das sind allesamt Regierungen, die für einen Widerstand gegen den US-Einfluss in Lateinamerika stehen. Also haben die USA über Jahre hinweg den NGO-Sektor der Opposition in Nicaragua finanziert und mit ihr den medialen Komplex, der nun die sozialen Netzwerke mit Falschinformationen flutet. Sie ergreifen nun lediglich eine sich bietende Chance.

Es gibt in der internationalen Presselandschaft viele Stimmen, welche die Regierung Ortega-Morillo als autoritär und neoliberal bezeichnen. Würden Sie dieser Charakterisierung zustimmen?

Man kann das derzeitige Modell in Nicaragua in jedem Fall nicht mit anderen ökonomischen und politischen Modellen in Zentralamerika oder Europa vergleichen. Um ein genaueres Bild zu erhalten, muss man sich die Widersprüche anschauen. Zunächst einmal zu den offensichtlichen Fortschritten, welche die Regierung durchsetzte: Unter Ortega kam es zu Verbesserungen des Lebensstandards der Menschen, die Umverteilung des Reichtums wurde vorangetrieben, ebenso die makroökonomische Kontrolle, der Ausbau der Infrastruktur, die Verringerung der Armut und der Ausbau der öffentlichen Mindestversorgung. Das alles geschah in einem beeindruckenden Ausmaß.

Um das politische System zu verstehen, muss man wissen, dass der historische revolutionär-sandinistische Prozess in den 1980er Jahren von zwei Mächten sabotiert wurde: Von der katholischen Kirche und der Privatwirtschaft. Daher war das erste, was die neo-sandinistische Regierung machte, als sie 2007 an die Macht kam, mit genau diesen Sektoren ein Bündnis einzugehen. Das Abtreibungsverbot ist eines der Resultate dieses Bündnisses. Es erzeugte einen Bruch der FSLN mit den sozialen Bewegungen in Nicaragua, vor allem aber mit der internationalen Solidaritätsbewegung. Das Resultat des Bündnisses mit der Privatwirtschaft war der sogenannte ,,Nationale Konsens“, der in den vergangenen Jahren erstaunlich gut funktionierte. Unter diesem Konsens transformierte sich Nicaragua in eines der sichersten Länder Zentralamerikas, was sozialen Sicherheit und Wirtschaftswachstum anbelangte.

Die Regierung war dennoch gleichzeitig von einem steigenden Autoritarismus geprägt. Das zeigte sich etwa dadurch, dass die Zugänge zu unabhängiger Information immer weiter eingeschränkt wurden. Die Maßnahmen nährten die Unzufriedenheit in der Bevölkerung. Es gab zwar Presse- und Meinungsfreiheit, es wurden auch keine Journalisten getötet, aber es gab immer weniger Möglichkeiten, den Beruf auszuüben. Gleichzeitig gab es auch eine Integration der Gewerkschaften, die dadurch ihre Unabhängigkeit verloren. Aber: Für eine Regierung mit derart starkem sozialen Profil, die den Forderungen sowohl der Privatwirtschaft, als auch des Internationalen Währungsfonds in Bezug auf die Reform der Sozialgesetzgebung widerstand – beide Institutionen schlugen viel schärfere Maßnahmen vor – ist das Etikett ,,neoliberal“ wenig zutreffend und nichtssagend.

Laut der parlamentarischen Wahrheitskommission sind bislang circa 200 Personen im Rahmen der Proteste ums Leben gekommen. Wer ist für diese immense Todeszahl verantwortlich?

Es gibt hier viele NGO und auch internationale Untersuchungsinstitutionen, wie zum Beispiel die CIDH 1, die die Schuld einseitig der Regierung zuweisen. Aber das kann man so nicht machen. Die Kalkulation von ungefähr 200 Toten umfasst neben toten Oppositionellen alle weiteren Opfer der vergangenen Monate, das heißt, auch tote Polizisten und Regierungsanhängern. Meiner Meinung nach sind beide Seiten gleichermaßen verantwortlich für das Gewaltszenario und die Todeszahlen, weil beide Seiten bewaffnet und in gewalttätige Auseinandersetzungen verstrickt sind. Die Regierung befindet sich zur Zeit in einer Defensivposition und wird von bewaffneten Gruppen der Opposition attackiert. Andererseits gibt es auch irreguläre regierungsnahe Milizen, die die Polizei bei ihren Streifzügen begleiten.

Welche dominanten Kräfte machen Sie in der Opposition gegen die sandinistische Regierung nach zwei Monaten Auseinandersetzungen aus?

In der Opposition lassen sich zwei unterscheidbare Fraktionen identifizieren. Eine moderatere Fraktion, die von der Privatwirtschaft, einigen Teilen der katholischen Kirche, einigen Teilen der Studierenden und zu einem kleinem Teil von der Zivilgesellschaft gestellt wird. Und eine radikale Fraktion, die aus den konservativsten Teilen all dieser Bereiche zuzüglich des NGO-Sektors besteht. Beide Fraktionen eint das Ziel, die Regierung zu stürzen. Der moderate Teil der Opposition genießt den Rückhalt der USA und der OAS für die Verhandlungen mit der sandinistischen Regierung. Sie nehmen an den Verhandlungen teil, um eine Verfassungsreform sowie eine Reform des Wahlrechts zu erreichen und Neuwahlen anberaumen zu können.

Der radikalere Teil der Opposition will die Regierung und die FSLN auf gewalttätige Art und Weise loswerden. Man interessiert sich nicht für Wahlen oder einen nationalen Dialog. Das Ziel der Fraktion ist nicht nur der Rücktritt von Ortega und Murillo, sondern der aller derzeitigen staatlichen Autoritäten. Sie planen, eine provisorische Junta an ihre Stelle zu setzen und eine verfassungsgebende Versammlung einzuberufen. Dieses Ziel ist vollkommen abseits jeder Verfassungsmäßigkeit und speist sich aus einem vorgeblichen politischen Szenario, dass es so nicht gibt ‒ nämlich, dass der Präsident mit der Verfassung und den staatlichen Gewalten aufgeräumt habe. Glücklicherweise genießt dieser Teil der Opposition keine internationale Unterstützung. Sämtliche internationalen Institutionen, die in den Konflikt in Nicaragua involviert sind, inklusive der USA, bevorzugen eine demokratische und verfassungskonforme Lösung. Nur wenige ultrakonservative Sektoren der US-Politik unterstützen die radikalere Lösung.

Und in der Opposition finden sich keine Kräfte links der FSLN?

Es gibt keine bedeutende außerparlamentarische Linke in Nicaragua. Was es gibt, ist eine fragmentierte soziale Bewegung, die sich eine gewisse Radikalität gegenüber neoliberalen und spezifischen nationalökonomischen Modellen in Nicaragua bewahrt hat. Die Aktivisten werfen der FSLN zum Beispiel vor, dass sie dem gängigen neo-extraktivistischen Modell folge. Sie haben damit bis zu einem bestimmten Grad Recht, vor allem, wenn es um die Ausbeutung natürlicher Ressourcen geht oder den Ausbau von Monokulturanbauflächen. Zugleich kann eingewendet werden, dass diese Entwicklungen in keinem Vergleich zu ökonomischen Modellen in den anderen Ländern Zentralamerikas stehen. Hier in Nicaragua gibt es massive soziale Investitionen in ländliche Regionen als Folge der Umverteilung des Reichtums.

Die Gruppen, die für sich in Anspruch nehmen, die ,,wahre Linke“ zu sein, sind eigentlich Konservative, wie zum Beispiel die Bewegung der sandinistischen Erneuerung (MRS), die in den 1990er Jahren als Abspaltung aus der FSLN hervorging. Um ihre zugrundeliegende konservative ideologische Position zu erkennen, reicht es aus, ihre Anführerinnen und Anführer über ihre Meinung bezüglich der bolivarischen Allianz Alba, bezüglich Ländern wie Venezuela, Kuba, Bolivien oder Parteien, die mit der FSLN verbündet sind, wie der Nationalen Befreiungsfront Farabundo Marti (FMLN) in El Salvador, Libre in Honduras oder der Arbeiterpartei (PT) in Brasilien, zu befragen. Die wird nicht gut ausfallen. Exakt diese Strömungen der Opposition sind in der derzeitigen Krise Teil der radikalsten Kräfte.

Sie haben bereits zuvor die mediale Dimension des Konflikts in Nicaragua angesprochen. Welche Rolle spielen Ihrer Meinung nach die internationalen Medien?

Wenn wir über die sozialen Medien sprechen, sprechen wir nicht über Informationen, sondern über Informationsmüll. Die Übereinstimmungen zwischen Nicaragua und Venezuela sind in diesem Punkt frappierend. In beiden Fällen geht es hier um bezahlte Oppositions-Trolle, die falsche Berichterstattungen online platzieren und diese unter Hashtags wie #SOSNicaragua wiederholen. Diese Oppositions-Trolle erfinden Vorfälle, die so nicht stattgefunden haben, und erschaffen durch stetige Wiederholung eine Art virtuelle Wahrheit, die sich im Denken der Menschen in Realität übersetzt. Dieser Informationskrieg wurde durch die Opposition sehr gut vorbereitet und auch durch die starke Einschränkung von unabhängiger Berichterstattung seitens die Ortega-Regierung befeuert.

In Bezug auf die internationale Berichterstattung merke ich, wie schnell man der einen oder der anderen Seite zugeordnet wird, sobald man eine Analyse zur Situation in Nicaragua verfasst. Dabei fällt unter den Tisch, dass es auf beiden Seiten problematische Tendenzen gibt. Wenn ich zum Beispiel veröffentliche, dass die Regierung den Aufstand durch ihr autoritäres Durchregieren provozierte, bin ich der Verteidiger der Opposition. Wenn ich darauf hinweise, dass es in der Opposition extrem gewalttätige Tendenzen gibt, bin ich ein Verteidiger der Regierung. Die Polarisierung geht ungezügelt weiter und es gibt kein Interesse an einer ausgeglichenen Position.

Die internationalen Medien folgen damit der Tendenz, die derzeit die Gesellschaft in Nicaragua spaltet. Sie analysieren nicht den Kontext, sondern betreiben selbst Polarisierung. Und deshalb folgen 90 Prozent der internationalen Medien den fabrizierten Nachrichten von angeblichen Massakern, Genoziden, Diktaturen oder einer friedlichen und unabhängigen Studierendenrevolution. Aber so ist es nicht und es bedarf mehr Analyse, um das zu verstehen.

Wie kann Ihrer Meinung nach der Konflikt im Land beigelegt werden? Sind die Gräben schon zu tief – droht dem Land jahrelange Unruhe?

Um die derzeitige Situation zu überwinden, müssen beide Seiten einen Schritt zurücktreten. Sie müssen zurück an den Verhandlungstisch, um die Krise demokratisch und verfassungsgemäß beizulegen. Sowohl internationale Untersuchungsausschüsse der OAS, als auch die nationale Wahrheitskommission haben die wichtige Aufgabe, zur Aufklärung der mörderischen Taten beizutragen, Frieden und Ruhe in die Lager zu bringen und damit die Situation im Land zu normalisieren. Das könnte die gewalttätigen Teile auf beiden Seiten isolieren und einen Friedensdialog befördern.

Die radikalsten Teile der Opposition tun ihr Möglichstes, um die Gewaltschraube weiter nach oben zu drehen, um Kapital für ihre eigene politische Agenda herauszuholen. Das ist ein Teil der Protestierenden, dem es egal ist, ob es noch mehr Tote und Chaos gibt. Wenn es keine Lösung am Verhandlungstisch gibt, steht Nicaragua vor der Gefahr einer Verschärfung der Gewalt oder sogar einem Bürgerkrieg.

Giorgio Trucchi aus Italien ist Journalist und lebt seit vielen Jahren in Nicaragua

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