Staatstheorien
Materialistische Staatstheorie
Der Staat ist die „materielle Verdichtung eines Kräfteverhältnisses"
(Nicos Poulantzas), kein eigenständiger, einheitlicher Akteur, sondern
permanent im Wandel. Der Staat ist aber immer auch Klassenstaat. Seine Funktion
ist es, die Reproduktionsbedingungen der (kapitalistischen) Gesellschaft zu
sichern, d. h., bestehende Eigentumsverhältnisse und Klassenstrukturen aufrecht
zu erhalten und Infrastruktur bereitzustellen. Um dies aber erfüllen zu können,
bedarf er einer relativen Autonomie, d. h., der Staat muss über den
widerstreitenden Interessen zwischen und innerhalb der Klassen stehen, welche
die Reproduktion der Gesellschaftsordnung gefährden würden. Es ist unmöglich
grundlegende gesellschaftliche Veränderungen mittels des Staates zu erreichen.
Anarchistische Staatstheorie
Der Staat ist ein Klassenstaat, in dem mit Gewalt und Repression aber auch
durch Integration und Einbindung die Herrschaft von Wenigen über Viele, die
kapitalistische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gesichert werden soll.
Diese künstlich geschaffene Institution bedeutet eine vertikale Organisation
von Gesellschaft, Herrschaft von Menschen über Menschen und Strukturen, denen
Gewalt inhärent ist. Der Staat bedeutet immer eine Zwangsordnung, die der
anarchistischen Vorstellung von Herrschaftslosigkeit, Freiwilligkeit, freier
Assoziation und Selbstorganisation absolut entgegengesetzt ist. Deshalb wird
der Staat radikal abgelehnt.
Liberale/pluralistische Staatstheorie
Der Staat ist der Austragungsort von Interessenskonflikten und kann nicht von
einer Klasse, Gruppe oder Organisation dominiert werden. Er ist eine von den
Individuen geschaffene Institution (Gesellschaftsvertrag), um Eigentum, Leben
und Freiheit zu schützen und dem Kollektivgutdilemma zu begegnen, nach dem
Kollektivgüter wie z. B. eine saubere Umwelt immer von ihrer Zerstörung bedroht
sind, obwohl alle eigentlich Interesse daran haben, dass es weiterbesteht. Der
Grund für dieses Dilemma ist, dass es jedem rational auf seinen Nutzen
bedachten Individuum ungeachtet der Handlungen anderer immer am meisten Nutzen
bringt, den eigenen Beitrag zur Erhaltung des Kollektivguts zu sparen. Der
Staat ist ein Mittel, um dieses Dilemma zu überwinden, weil er Zwang und
Sanktionen ausüben und so von allen gewünschte Kollektivgüter schützen kann.
Sozialdemokratisches Staatsverständnis
Die Sozialdemokratie bewegt sich auf der Grundlage des liberalen
Staatsverständnisses, nimmt dabei aber Partei für die unteren Schichten und
fordert stärkere Kontrolle der Ökonomie zugunsten einer Umverteilung von oben
nach unten ein.
Feministische Staatstheorie
Der Staatsapparat ist kein reines „Hauptquartier des Patriarchats", aber
strukturell selektiv und so geschlechtsspezifisch geprägt. Er reproduziert und reguliert
ein hierarchisches Geschlechterverhältnis. Zentral ist die Herstellung von
Öffentlichkeit und Privatheit. Männlichkeit wird hegemonial, indem z. B.
Staatsbürgerschaft oder Sozialstaat mit männlicher Erwerbsarbeit verknüpft
werden.Männliche Hegemonie kann nur in der Zivilgesellschaft in Frage gestellt
werden bei gleichzeitiger Bündnispolitik m it spezifischen Staatsapparaten.
Perspektive ist also eine „Frauenpolitik mit dem Staatsapparat gegen den
Staatsapparat" (Birgit Sauer).
(Birgit Sauer)
Staatstheorien
Erschienen in: Info-Blatt 69 des Ökumenischen Büros
München
Dezember 2006